Singen mit Überblick

Wenn in Berlin-Kreuzberg die Sonne im Dächermeer versinkt – dann trifft sich der taz-Chor. Politische Lieder werden dort aber eher selten gesungen. Denn Singen soll vor allem eines: Spaß machen

von MARIJA LATKOVIC

Noch einmal von vorne, bitte. Etwas beschwingter. Kesser. Süßlicher. Wenn man davon singt, dass der Liebste so süß ist wie ein Stück Apfelkuchen oder ein Lutscher, muss es auch so klingen. „Sehr süß“, fordert Chorleiterin Meike Holstein. Also noch mal bitte: „Lollipop, lollipop, oh, lolli, lolli, lolli …“

Das Warm-Singen mit dem alten Klassiker der „Chordettes“ dauert an diesem Abend etwas zu lang. Eigentlich probt der taz-Chor derzeit einen Auszug aus Händels „Acis und Galatea“. In der vergangenen Woche erst hat man damit begonnen. „Dafür ist es schon ganz gut“, meint Holstein. Vor allem ist es laut. Denn geübt wird einmal die Woche in einem kleinen Pavillon unter dem Dach des taz-Redaktionsgebäudes. Dort, wo sonst Konferenzen stattfinden, singen jetzt sechs Bässe, fünf Tenöre, elf Altistinnen und neun Soprane Händels weltliche Barockmusik also. Zuvor wählte Holstein Werke aus der Romantik, Mittelalter und Renaissance. Jazz, Schlager und Popmusik gehören aber genauso zum Repertoire, das inzwischen über 150 Lieder umfasst. „Ganz am Anfang“, erinnert sich Manfred Swoboda, „haben wir auch Lieder aus der südafrikanischen Befreiungsbewegung gesungen“.

1994 war das – das Jahr, in dem der taz-Chor gegründet wurde. „Damals waren noch sechs oder sieben tazlerInnen dabei“, sagt Holstein. „Aber nur zwei oder drei kamen regelmäßig zu den Proben.“ Inzwischen ist nur noch Doris Benjack geblieben. Ansonsten besteht der Chor aus einer bunten Mischung: Vom Handwerker über die Studentin bis hin zum Zahnarzt ist alles dabei. Wenn der Name taz-Chor überhaupt noch zutrifft, dann nur weil die taz weiterhin den Probenraum zur Verfügung stellt. Kostenlos – und dafür sind alle dankbar. Nicht nur weil man sich keinen anderen Raum leisten kann. Vor allem die Atmosphäre gefällt den 35 Sängern und Sängerinnen.

Wahrscheinlich gibt es nicht viele Chöre, die beim Singen durch eine breite Glasfront freie Sicht auf die Dächer Berlins haben. Andererseits leiden andere Chöre wohl auch nicht unter einem ähnlich großen Platzproblem. Es wird eng. Auf das „Hallo“ folgt deshalb zunächst ein „Könnt ihr mal ein Stück rutschen?“. Und dann sitzen sie in einer Reihe. Links die Bässe, dann Tenöre, Altisten, Soprane.

Südafrikanische Befreiungslieder singen sie heute nur noch selten. Auch wenn man von einem taz-Chor vielleicht anderes erwartet, eine politische Motivation hat er nicht. „Es ist ein entspannendes Hobby“, so Benjack. Gemeinsam mit netten Leuten könne man einfach Spaß haben. Frauenfeindliche Lieder kommen aber nicht in Frage – mag der Text noch so lustig sein. Gleiches gilt für Kirchenlieder. Zu oft haben die Chormitglieder dabei über Texte und Inhalte diskutiert. Eine Einigung kam nie zustande. Denn auch wenn nur noch eine taz-Mitarbeiterin dabei ist, „taz-Sympathisanten sind die meisten hier“, sagt Swoboda. Auch Abonnenten finden sich unter den Sängern.

Swoboda gehört zu den Sympathisanten. 1994 kam der Ingenieur zum Chor. Bis zur Wende sang er beim IG-Metall-Chor. Politisch seien dort nicht nur die Lieder gewesen. Auf Demos seien die Mitglieder gegangen und hätten in U-Bahnen gegen Fremdenfeindlichkeit demonstriert. 1990 wurde der Chor aufgelöst. Vier Jahre später entdeckte er eine Anzeige in der taz: „taz-Chor sucht Mitglieder.“ Er hat sich gemeldet. Nun ist Swoboda froh, beim Singen nicht mehr politisch sein zu müssen. Manchmal ist er es trotzdem.

Gemeinsam mit Benjack nahm er sich das Lied der Capri-Fischer vor. Aus dem Text, in dem eigentlich besungen wird, was passiert, wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, dichteten sie eine neue Version: über Bonner Politiker, die das Geld zum Fenster hinauswerfen. Außer Freunden und Bekannten hat das Lied aber noch niemand gehört. Der Chor nimmt nicht an Wettbewerben teil. Das hätte Folgen, die Leiterin Holstein nicht in Kauf nehmen will. Wenn der Chor einmal im Jahr vor Freunden auftritt, häufen sich die Proben ohnehin schon, und es ist schwer genug, alle zu den vereinbarten Terminen zusammenzubekommen. „Normalerweise ist ein Chor eine autoritäre Angelegenheit“, erklärt Holstein. „Vorne steht einer und redet, und alle anderen folgen.“ Bei ihnen sei das anders. Es herrscht eine freundschaftliche Atmosphäre. Wenn die Chorleiterin im Pavillon am Klavier steht, kann es deshalb auch schon vorkommen, dass jemand sagt: „Der Text ist Scheiße.“ In solchen Momenten schluckt sie erst einmal. Aber es ist ihr lieber, als immer den Ton angeben zu müssen. Wettbewerbe kommen deshalb auch nicht in Frage. Der Stress würde mit der Zeit zu groß werden, die Stimmung darunter leiden.

Auf gelegentliche größere Auftritte will der taz-Chor trotzdem nicht verzichten. Der letzte ist zwei Jahre her. Bei der taz-Genossenschaftsversammlung traten sie vor einem begeisterten Publikum auf. Der Chor führte „Sixteen Tons“ auf – ein Lied über die Ausbeutung von Minenarbeitern. Das Lied sei taz-typisch, sagt Benjack. Politisch. „Hochpolitisch“, ergänzt Swoboda. Spaß habe es trotzdem gemacht.