Das Knacken im Nacken

Körper außer Kontrolle: Seit einem Jahr arbeitet die amerikanische Choreografin Meg Stuart auch am Schauspiel Zürich, in dem Land, in dem jeder Mann ein Gewehr hat. Das bleibt nicht ohne Folgen

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Opfer, Täter, Zuschauer: Wo der Spielraum menschlicher Handlungen über diese drei Haltungen nicht mehr hinausgeht, gibt es kaum Hoffnung auf Freiheit und Verantwortung. Alles rollt als Ereignis über uns hinweg. „Opfer. Täter. Zuschauer.“ lautet eine Zeile in Sarah Kanes „4.48 Psychose“, und lange ließen sich die Protagonisten ihrer Stücke nur in diesen Verhältnissen wiederfinden. Als ihr Drama letzten Winter am Schauspielhaus Zürich herauskam, zeigte dort zur gleichen Zeit die amerikanische Choreografin Meg Stuart „Alibi“: Tanztheater in Zeiten der Kriegsmeldungen. Es ist die Unmöglichkeit, in der eigenen Realität anzukommen und sich nicht nur als Zuschauer einer von anderer Hand inszenierten Katastrophe zu fühlen, die Stuarts Figuren so fertig macht.

„Wir verfügen über viele Informationen, wir wissen, was geschieht“, sagt Meg Stuart, „aber das heißt nicht, dass wir die Situation ändern können. Wir haben zwar die Fähigkeit, schnell umzuschalten von einem Bewusstsein zu einem anderen – aber irgendwann löst sich das auf, alles wird gleichgültig. Wir hören von Bombardements, aber irgendwann ergreift uns eine Art von Apathie. Du fühlst dich wie ein Zeuge, aber wo kommt der Punkt, wo man mit dem persönlichen Engagement dabei ist? Das war die Frage, die mich in ‚Alibi‘ beschäftigt hat.“

Am Anfang der Probenzeit hängte sie im Probenraum Fotografien auf von brüllenden Sportfans, Boxkämpfen, Heckenschützen, Raves: Körper außer Kontrolle, Körper, die auf Katastrophen reagieren – das Ausgangsmaterial für eine Bewegungsrecherche in Extremsituationen.

Zweimal taucht dieses Material später im Stück auf, zusammengeschnitten in einer Szene. So dicht folgen sich die Situationsschnipsel, dass eine begriffliche Sortierung kaum mitkommt – und doch erkennen wir die Bilder wieder, auf Bildschirmen zu Ikonografien der Gewalt und der öffentlichen Erregung geronnen. In der Wiederholung sieht Meg Stuart eine Chance. In der Wiederholung sind aus den anonymen Opfern und Tätern sehr komplizierte Charaktere mit ausgefuchsten Strategien der Rechtfertigung und Verdrängung geworden. Verändert hat sich zudem, so hofft die Choreografin, der Zuschauer selbst. Die Zeit, die er mit diesen Darstellern in einem Raum verbracht hat, angekratzt von ihren Verstörungen, hat ihm die Abwehr schwer gemacht.

„Hardcore“ hat man „Alibi“ genannt, „Irre, Süchtige“ auf der Bühne ausgemacht. Fanatismus oder Krankheit, das lässt sich hier nicht mehr auseinander halten. Die Zustände, in denen man das Ensemble von vier Frauen und drei Männern erlebt, sind furchteinflößend. Zerspringt Joséphine Evrard nicht ihr Herz, wenn sie minutenlang zwischen Würgen, verschluckten Schreien und terroristischen Drohungen pendelt? Platzt keine Ader im Hirn von Davis Freeman, übrigens der Bruder von Meg Stuart, wenn er dem Publikum seine Bekenntnisse ins Gesicht brüllt? Geständnisse, die wir nicht hören wollen, die uns moralische Urteile abnötigen? Ihm schwillt der Hals, die Augen springen vor. Bis es ihm den Kopf nach hinten reißt, dass man selbst in der letzten Reihe noch die Nackenwirbel zu knacken hören glaubt.

Dem Publikum geht es nicht gut in „Alibi“, aber ob in Zürich, Brüssel oder Paris, ausverkauft war das Stück immer. In Zürich war es die erste Uraufführung von Meg Stuart, die von dem Intendanten Christoph Marthaler als „artist in residence“ für vier Jahre engagiert wurde. In Brüssel, wo sie 1994 ihre Gruppe „Damaged Goods“ gründete, behält sie ihr Basislager.

Vor einem Jahr begann Meg Stuart den Neubau des Theaters Zürich, den Schiffbau, mit „Highway“, einer auf die Architektur bezogenen Arbeit, zu erkunden. Nach der Show lud sie in eine Lounge. „So haben wir schnell ein neues und jüngeres Publikum gefunden, das zu uns wiederkommt“, sagt die Choreografin. Für „Alibi“ stellte sie ihr Ensemble neu zusammen. Anfangs unternahmen sie Exkursionen, vertrauensbildende Maßnahme in der Gruppe. Meg Stuart – „all those men have guns, you know“ – wählte einen Schießübungsplatz aus, ein Hockeyspiel und ließ ihre Performer in Kung-Fu unterrichten.

Ihr physisches Theater war nicht immer so gewaltgeladen. In „appetite“ standen Lust, Freundschaft und soziale Rituale im Vordergrund. Die Figuren knabberten sich an, aus dem Gefühl des Mangels brachen sie mit Neugierde auf. Dem Atem, dem ständigen Austausch mit dem Außen, war eine Serie von Bildern gewidmet. Aber selbst in „appetite“ war der Körper ein Ort, um dessen Definition verschiedene Institutionen im Streit liegen. Wie in Stuarts folgenden solistischen Studien über das Morphing, ist für sie die eigene Haut kein geschützter Ort.

„Schon als Kind habe ich mir vorgestellt, wie es ist, zu sterben. Oder ich versetze mich in Situationen wie: Was passiert, wenn das Haus abbrennt. Vielleicht pervers, aber das Wichtige ist, den Punkt der Transformation zu finden“, erzählte die in New Orleans geborene Künstlerin, die in ihren Stücken mehr zu Hause ist als sonstwo auf der Welt. Schon ihre Eltern arbeiteten am Theater, und mit ihnen lernte sie, sich in der Unruhe einzurichten. „Wo erfährst du denn noch die Wirklichkeit, von der deine Stücke handeln“, wollte denn auch Alain Platel, ein befreundeter Tanz- und Theatermacher aus Brüssel, in einem Gespräch auf der Bühne von ihr wissen, nach der Vorstellung von „Alibi“. Tatsächlich scheinen ihre Stücke nicht mehr aus einem Bereich herauszukommen, der mehr vom Flackern der Bildschirme beleuchtet wird als von der Sonne.

In Europa gilt Stuart seit Mitte der Neunzigerjahre als die wichtigste Choreografin aus den USA. Die Energie, die sie auf den Körper des Zuschauers loslässt, erinnert an die Sprachkaskaden, die Jenny Holzer, bildende Künstlerin aus Amerika, in Bändern aus Leuchtschrift in öffentlichen Räumen abschießt. Unerwartet treffen sie den Lesenden mit ihrem intimen Ton und einem bedrohlichen Blick auf den Körper: „I forget your hands when I move away. It is indicent to recognize my family and what it did in a palm or fingernails. I want you freshly made.“ Diese Gleichzeitigkeit von Nähe und Auslöschung findet sich auch in den Texten, die Stuart in „Alibi“ benutzt.

Da erzählt Thomas Wodianka, schmal und schüchtern am Tisch sitzend, dass sich nie jemand an ihn erinnern kann. Vor unseren Augen wird er weniger und weniger, während er zugleich groß in der Videoprojektion erscheint. Aber auch dort bleibt er einer, der nie ankommt. Mit „Alibi“ ist Meg Stuart zum Theatertreffen im Mai nach Berlin eingeladen; das hat sie gefreut und nicht zuletzt gewundert. Eingeladen ist auch der Regisseur Stefan Pucher, mit dem sie zusammenlebt. Gemeinsam wollen sie demnächst „Henry IV“ bearbeiten. Zum Schluss frage ich sie, was sie von Tschechow hält, von dem Pucher drei Stücke inszeniert hat, und zum einzigen Mal in unserem Gespräch kringelt sie sich vor Lachen. Tja, Tschechow, mit dem hat sie schon einige Zeit gelebt; aber so, wie er sich in seinem Werk exponiert, das ist ihr fern. Aber mit ihm nachzudenken über die Liebe und die entscheidenden Weichen im Leben, das berührt sie dann doch.