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Zu Lasten des Ostens

Vor 50 Jahren schlug Stalin einen Plan zur Wiedervereinigung Deutschlands vor. Adenauer und die Westmächte lehnten ihn ab – weil sie seine Konsequenzen fürchteten

Hätte man den Bürgern der DDR nicht 38 Jahre real existierenden Sozialismus ersparen können?

War da was? Vor 50 Jahren, am 10. März 1952, schlug der Sowjetdiktator Stalin den Westmächten vor, einen Vertrag über die Wiedervereinigung Deutschlands zu schließen, und er beschrieb auch gleich, wie das wiedervereinigte Land aussehen sollte: Die Deutschen könnten alle demokratischen Freiheiten genießen, ihre Wirtschaft frei entfalten und wieder über eine Armee verfügen. Nur Mitglied der Nato durfte das vereinte Deutschland nicht werden.

Die Westmächte haben das damals kategorisch abgelehnt. Sie waren gerade dabei, die Nato aufzubauen. Dazu brauchten sie das westliche Deutschland. Bundeskanzler Adenauer hat die Westmächte in ihrer Haltung bestärkt: Er wollte die Bundesrepublik in die Nato führen und setzte darum alles daran, dass über das sowjetische Angebot nicht verhandelt wurde.

Seither quälen sich die Deutschen mit der Frage, ob damals eine Chance verpasst wurde. Hätte man den Bürgern der DDR nicht 38 Jahre real existierenden Sozialismus ersparen können? Wäre der Kalte Krieg dann vielleicht weniger heftig geführt worden, gar früher zu einem glücklichen Ende gekommen?

Unangenehme Fragen. Wer sie stellt, wird darum gerne als naiver Idealist beiseite geschoben. Ebenso gerne glaubt man denjenigen, die behaupten, an dem sowjetischen Angebot sei nichts „dran“ gewesen: Stalin habe nur einen Vorwand gesucht, um dem Westen die Verantwortung für die längst vollzogene Teilung in die Schuhe zu schieben. Oder, in einer neueren Variante: Die Propagierung des Friedensvertrags habe nur dazu dienen sollen, die Revolution in der Bundesrepublik auszulösen. Die Wiedervereinigung sei demnach als Anschluss einer sozialistischen Bundesrepublik an die DDR gedacht gewesen.

Wer so argumentiert, übersieht freilich zweierlei: Für Stalin war die DDR im Frühjahr 1952 noch kein sozialistischer Staat. Sie war ein Provisorium, das nach der Konstituierung der Bundesrepublik 1949 unvermeidlich geworden war, aber jederzeit wieder aufgegeben werden konnte, wenn eine bessere Lösung der deutschen Frage in Sicht kam. Und es gab für ihn gute Gründe, nach einer besseren Lösung zu suchen: Eine Nato mit amerikanischer Präsenz mitten in Europa und noch dazu unter starker Beteiligung deutscher Truppen konnte er nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie zu verhindern war wichtiger als die Herrschaft Ulbrichts im Ostteil des deutschen Besatzungsgebiets zu sichern.

Glücklicherweise konnte man sich in den letzten Jahren die Akten des sowjetischen Außenministeriums ansehen. Sie bestätigen, dass Stalin seine Prioritäten in der deutschen Frage tatsächlich so setzte, wie er sie im sowjetischen Interesse setzen musste. Gleichzeitig zeigen sie einen Partei- und Staatsapparat, der sich auf ernsthafte Verhandlungen mit den Westmächten vorbereitete.

Ein Entwurf für den Friedensvertrag, der Deutschland als einheitlichen Staat wiederherstellt, lag nach Ausweis der Akten schon zu Beginn des Jahres 1951 im Moskauer Außenministerium vor. Er sollte auf einer neuen Tagung des Außenministerrats der vier Siegermächte präsentiert werden und wurde zu diesem Zweck wiederholt überarbeitet. Die besten Köpfe, die Moskau für Fragen der Deutschlandpolitik, der Verhältnisse in Westeuropa und des Völkerrechts aufwies, wirkten daran mit.

Eine Version aus diesem Bearbeitungsprozess, vermutlich aus dem Herbst 1951, ist erhalten geblieben. Sie sah für die Deutschen noch manche unangenehme Bestimmungen vor, insbesondere weitere Reparationszahlungen und eine Beschränkung der Bewaffnung auf Polizeikräfte. Was nicht in dem Vorschlag geregelt wurde, etwa kleinere Grenzberichtigungen an der deutsch-niederländischen Grenze, sollte in den Verhandlungen des Außenministerrats mit den Westmächten geklärt werden.

Die Tagung des Außenministerrats kam jedoch nicht wie erhofft zustande. Am 21. Juni 1951 gingen die Vertreter der vier Außenminister, die sich in Paris getroffen hatten, auseinander, ohne sich über eine Tagesordnung geeinigt zu haben.

Die Akten der Sowjets zeigen: Partei- und Staatsapparat waren vorbereitet auf ernsthafte Verhandlungen

In dieser Situation kamen Moskaus Chefdiplomaten auf die Idee, den Entwurf des Friedensvertrags der Öffentlichkeit zu präsentieren. Vielleicht, so ihr Kalkül, ließen sich ja die Deutschen im Westen dafür gewinnen, vielleicht auch die Franzosen, die die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik nicht wollten. Die öffentliche Meinung sollte die westlichen Regierungen an den Verhandlungstisch zwingen.

Stalin machte sich diese Idee Ende August zu Eigen. Er bestand aber darauf, wie den Papieren vom Tag nach der entscheidenden Politbürositzung zu entnehmen ist, dass der Veröffentlichung des Friedensvertragsentwurfs eine Phase intensiver Propaganda vorangehen sollte. Die Deutschen sollten dazu gebracht werden, den Abschluss des Friedensvertrages bei den Siegermächten einzufordern.

Die Propagandaarbeit wurde, wie üblich, von der SED übernommen. Parallel dazu arbeiteten die Moskauer Experten an einer optimalen Form der Veröffentlichung, immer darauf bedacht, den Gegnern eines Friedensvertrags im Westen keinen Vorwand für eine Ablehnung zu bieten.

Dabei wurde nicht nur beschlossen, statt des vollständigen Textes zunächst nur allgemeine Grundzüge des Friedensvertrags zu veröffentlichen. Es entfielen auch, eine nach der anderen, Bestimmungen, die für die Deutschen wenig attraktiv waren. Mit In-Kraft-treten des Vertrages sollten alle Truppen der Siegermächte aus Deutschland abziehen; danach sollte es keine Kontrolle durch die Sieger mehr geben. Kurz vor Veröffentlichung des Textes Anfang März 1952 fügte Stalin, wiederum eigenhändig, noch die Bestimmung hinzu, dass die Deutschen an der Aushandlung des Friedensvertrags beteiligt werden sollten.

Dass Stalin eigentlich gar nicht verhandeln wollte, kann man in Kenntnis dieser Dokumente nicht mehr behaupten. Man kann auch nicht mehr sagen, eine Wiedervereinigung Deutschlands auf der Basis der Neutralisierung sei bestenfalls die Option einer kleinen Gruppe im Kreml gewesen, die nicht repräsentativ war. Dies war die offizielle Politik, durchgeführt von den dafür zuständigen Spitzenbeamten, überwacht von Molotow als politisch Verantwortlichem und bis in die Details von Stalin gebilligt.

Für die Bewertung des Vorgangs ist nun aufschlussreich, dass Adenauer dies auch schon so sah. Bei ihm findet sich, anders als bei vielen seiner späteren Verehrer, kein Wort von einem Scheinangebot. Vielmehr nahm er die sowjetische Politik exakt so wahr, wie sie im Licht der neuen Quellen erscheint. „Im Grunde genommen“, führte er am 16. März 1952 zur Stalin-Note aus, „bringt sie wenig Neues. Abgesehen von einem stark nationalistischen Einschlag, will sie die Neutralisierung Deutschlands.“

Adenauer sah in der Neutralisierung allerdings keine Chance, sondern eine höchst bedrückende Gefahr. Ein neutrales Deutschland, fürchtete er, wäre immer sowjetischem Druck ausgesetzt, auch wenn die Truppen Moskaus das Land längst verlassen hätten und die Regierung demokratisch gewählt wäre. Bei der Dummheit der Nationalisten und der Verschlagenheit der Kommunisten müsste man früher oder später mit einem kommunistischen Deutschland rechnen.

Für Stalin war die DDR im Frühjahr 1952 noch kein sozialistischer Staat, sondern einProvisorium

Darüber kann man in der Tat streiten. Auch wer den Deutschen des Jahres 1952 größere politische Reife zubilligt, als Adenauer dies tat, wird zugeben müssen, dass Adenauers Pessimismus nicht völlig aus der Luft gegriffen war. Auf der anderen Seite muss man aber auch anerkennen, dass es eine Alternative zu Adenauer gab und dass oppositionelle Politiker wie Gustav Heinemann verdammt gute Gründe hatten, auf Verhandlungen mit den Sowjets zu drängen.

Wohin ein neutralisiertes Deutschland wirklich geführt hätte, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Es ist noch nicht einmal auszuschließen, dass Verhandlungen über die Stalin-Note genauso in einer Sackgasse geendet hätten wie frühere Verhandlungsrunden der vier Siegermächte. Sicher ist nur, dass für die Entscheidung, die die Westdeutschen 1952 getroffen haben, ein Preis gezahlt werden musste, der vorwiegend von den Ostdeutschen entrichtet wurde. Es ist an der Zeit, diesen unangenehmen Sachverhalt nicht länger zu verdrängen, indem man behauptet, da sei gar nichts zu entscheiden gewesen.

WILFRIED LOTH

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