Wo ein Kläger, da ein Richter

Nach zehn Jahren wird die Auskunftspraxis der Gauck-Behörde für rechtswidrig erklärt. Geklagt hatte vor Helmut Kohl niemand. Und Kohl bekam Recht

von CHRISTIAN SEMLER

Das Bundesverwaltungsgericht hat gestern unter dem Vorsitz von Hans-Joachim Diehaus genauso geurteilt, wie es die Spatzen vorher vom Dach des Gerichtsgebäudes in der Hardenbergstraße gepfiffen hatten: Kohl siegt. Die Zusammenfassungen der Stasi über abgehörte Telefongespräche des Bundeskanzlers bleiben unter Verschluss. Das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts vom Juli letzten Jahres wurde bestätigt. Das Urteil ist endgültig. Denn Marianne Birthler ist als nicht persönlich durch das Urteil Beschwerter der Weg zum Bundesverfassungsgericht versperrt.

Schon die mündliche Verhandlung des gestrigen Vormittags hatte für die Birthler-Behörde nichts Gutes verheißen. Richter Diehaus bezeichnete die Rechtspositionen der Behörde als „nicht besonders stark“ und fügte hinzu, es „sei schon schwierig, gegen einen durch die Entstehungsgeschichte begründeten Wortlaut eines Gesetzes zu entscheiden“. Das Argument der Birthler-Behörde, neun Jahre lang sei ihre Praxis der Herausgabe von Informationen politischer Persönlichkeiten unbeanstandet geblieben, wischte Diehaus vom Tisch: Das sei kein Argument.

Juristisch ging es eben um die Interpretation des Wortlauts von Paragraf 32 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Dort wird festgelegt, dass für die Zwecke der historischen Forschung wie der politischen Bildung Unterlagen mit personenbezogenen Informationen über Personen der Zeitgeschichte, Inhaber politischer Funktionen und Amtsträger zur Verfügung gestellt werden, „ soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind und soweit durch die Verwendung keine übewiegenden schutzwürdigen Interessen der genannten Personen beeinträchtigt werden“.

Die Birthler-Behörde war der Auffassung, dass die Schutzbestimmung sich nur auf private Belange der politischen Funktionsträger erstrecke. In dem Rechtsgutachten der Professoren Wehrle und Maren hieß es, dass nach dem Sinn des Gesetzes politische Funktionsträger nur dann als Betoffene einzustufen seien, wenn sie in ihrer Privatsphäre tätig würden. Agierten sie hingegen in der öffentlichen Sphäre, so müssten sie einen verringerten Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte hinnehmen. Der für Kohl tätige Gutachter Kunig hingegen argumentierte, der Paragraf 32 schütze unzweideutig das Persönlichkeitsrecht des „Betroffenen“, mache also im vorliegenden Fall die Veröffentlichung der Akten von seiner Zustimmung abhängig. Beide Seiten beriefen sich auf den Entstehungsprozess des Gesetzes. Die Birthler-Seite stellte das Recht der Öffentlichkeit auf Information haus, die Kohl-Seite des Prinzip des Opferschutzes. Und Kohl, obwohl Täter im Parteispenden-Verfahren, sei beim Abhören durch das MfS eindeutig als Opfer zu qualifizieren.

Die negativen Urteile in der Öffentlichkeit nach dem ersten, dem Verwaltungsgerichts-Urteil dürften sich jetzt potenzieren. Damals hieß es, es zeige eine Ungleichbehandlung je nach der räumlichen Verortung in Ost oder West. Künftig dürften auch hohe Würdenträger des Realsozialismus, wenn sie nicht für das MfS gearbeitet hätten, sich als Betroffene fühlen. Auch würde die künftige Forschung unerträglich behindert.

Wieweit dieser letzte Einwand berechtigt ist, wird wesentlich von der Haltung der „betroffenen“ Politiker abhängen. Den im Bereich der politischen Bildung und der zeitgeschichtlichen Forschung Tätigen kann es aber zum Trost gereichen, dass wichtige Stasi-Unterlagen in den vergangenen zehn Jahren bereits veröffentlicht sind, auch solche überaus peinlichen Inhalts, die devotes Verhalten unserer Politiker gegenüber den Realsozialisten dokumentieren.

Das Bundesverwaltungsreicht hat über den gegebenen Anlass hinaus auch an der Befestigung des informationellen Selbstbestimmungsrechts mitgewirkt, mag das auch, bezogen auf die Person Helmut Kohls, etwas befremdlich erscheinen. Aber vor dem Gesetz sind nun mal alle gleich.