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Glück ist ein tägliches Gedicht

Am Montag nichts Depressives, am Mittwoch eine Chance für den Nachwuchs, und bei Bedarf auch mal Goethe: Bereits 6.000 Lyrikfans nutzen das Angebot von Gregor Koall und beziehen jeden Morgen ein Gedicht von seinem Onlineversand „Lyrikmail“

von GUNNAR LEUE

Als Edmund Stoiber kurz nach seiner Ernennung zum Kanzlerkandidaten erste Polemiken an die Adresse von Gerhard Schröder richtete, verpasste dieser ihm via TV einen verbalen Konter in Reimform. In Anspielung auf die mühsame Kandidatenkür im Unionslager beschied er seinem Herausforderer mit ein paar Zeilen des Dichters Wilhelm Busch: „Wenn einer, der mit Mühe kaum gekrochen ist auf einen Baum, schon meint, dass er ein Vogel wär, so irrt sich der.“ Der Kanzler ist nicht der einzige Freund von Poesie. Schauspieler Heiner Lauterbach soll gleich selbst gedichtet haben, um seiner frisch Angetrauten derart seine Liebe zu versichern. Ja, für das kleine Gedicht zwischendurch können sich immer mehr Leute erwärmen.

Bestens bedient werden sie von einem Gedichteliebhaber, der für permanenten Lyrik-Nachschub per Internet sorgt. Seit April letzten Jahres verschickt der Berliner Gregor Koall tägliche Gute-Morgen-Gedichte per E-Mail. Wenn es die User wollen, und rund 6.000 wollen schon, sie nämlich haben Koalls Newsletter abonniert. Man könnte diesen Service als eine Art Weiterentwicklung der Aktion „Poesie in der Stadt“ sehen, bei der vor einiger Zeit Gedichte auf 600 großen Werbetafeln in Berlin plakatiert worden waren, um statt für Kraftstoff und Autos mal für Lesestoff und Autoren zu werben.

Auf diese Form der Lyrikverbreitung kam der ursprünglich aus dem brandenburgischen Städtchen Calau stammende Gregor Koall jedoch, nachdem ihm ein Freund ein Gedicht von William Blake gemailt und er es gleich an einen anderen Freund weitergeleitet hatte: „Spontan fiel mir die Idee mit dem Newsletter ein. Ich hatte keineswegs die Überlegung, wie kann ich Leute glücklich machen.“

Gregor Koall, der aus seinem Studium-Nebenjob inzwischen einen Vollzeitjob beim Online-Shop für Studenten Allmaxx gemacht hat, verfügte nach der Gründung seines Online-Gedichtversands „Lyrikmail“ (www.lyrikmail.de) zunächst nur über einen aus 60 Freunden bestehenden Abonnentenkreis. Dass sich die Gedichte liebende User-Gemeinde nun gleich verhundertfacht hat, erstaunt selbst den Erfinder, der noch in der Schule keinerlei Interesse an Gedichten und schon gar nicht an den klassischen deutschen Großdichtern aus Weimar zeigte.

Erst als Gregor Koall mit 16 Jahren an einer Schreib- und Literaturwerkstatt in Cottbus teilnahm, wurde sein Interesse an der Lyrik vor allem der Expressionisten geweckt. „Goethe mag ich nicht so, den halte ich für überschätzt“, sagt der 29-Jährige, der seine Meinung „nicht recht begründen“ kann. Zeitgenössischen Biografien habe er aber entnommen, dass Goethe aufgrund seiner privilegierten Lebensstellung einfach auch viel Glück besessen hätte. Trotzdem verschickt Gregor Koall auch schon mal ein Goethe-Gedicht, wenn es sich seine Abonnenten wünschen.

Weil die Gedichte alles thematisieren dürfen, aber schlechte Stimmung nicht noch zusätzlich verstärken sollen, kommt den Lyrikbeziehern zum Beispiel am Montag nichts Depressives ins Haus. Schmonzetten sowieso nicht und auch keine Reimpoesie von den schulbekannten Klassikern. Stattdessen gibt’s jeden Mittwoch eine Chance für den Nachwuchs.

Während Gregor Koall ältere Dichterworte in Antiquariaten und Onlinedatenbanken findet, kommt er an junge Autoren beispielsweise über das Literaturbüro NRW oder das Berliner Kook-Label, das sich um junge Musik und junge Lyrik zugleich kümmert. Insgesamt hat Gregor Koall einen Vorrat von 600 Gedichten gesammelt, aus dem seine Kunden bedient werden (allein das Versenden dauert täglich 2 Stunden). Gelegentlich schreibt er noch selbst Gedichte, eines hat er zum Gag an seinem letzten Geburtstag unter Pseudonym sogar in seinem Newsletter verschickt.

Auf ihre tägliche Lyrikmail warten Fans auch in der Schweiz, Österreich, England, USA und Taiwan, wo ein deutscher Geschäftsmann auf die Art Entspannung vom Business sucht. Die meisten Abonnenten in Deutschland sind offenbar Studenten, die älteste Abonnentin ist allerdings eine 94-jährige Charlottenburgerin. Zu den treuen Nutzern des Lyrikservices zählt außerdem eine blinde Frau, die sich ihr täglich Gedicht stets vorlesen lässt. Die Resonanz auf das Internetangebot ist enorm: Jeden Tag bekommt Gregor Koall, der selbst bei Kneipenlesungen eigene Gedichte vortrug, mehrere hundert Mails. Viele mit Gedichten, die gern als Lyrikmail zu den Abonnenten weitergeleitet werden möchten, was jedoch zumeist an der Qualität scheitert (und Gregor Koall bereits manche Beschimpfung eintrug).

Bei der Verknüpfung des Neumodischen mit dem scheinbar Altmodischen zeigt sich der „Lyrikmail“-Erfinder auch sonst als Idealist. Obwohl die ganze Aktion nicht nur Zeit, sondern auch etwas Geld kostet, soll der Gedichtversand nichtkommerziell bleiben.

Immerhin war ein Musiker aus Hamburg von der Sache so begeistert, dass er den Boten der poetischen Internetpost um seine Kontonummer bat – um ihm monatlich 10 Euro zu überweisen.

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