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Die Geschichten der Gräber

Der jüdische Friedhof in Altona wird neu erforscht. S-Bahn-Verkehr und Luftverschmutzung haben Grabsteine geschädigt  ■ Von Suzanne Moenck

Bei einem ihrer ersten Besuche auf dem Jüdischen Friedhof an der Königstraße sind Prof. Michael Brocke und sein Team beklaut worden – eine Tasche fand einen unliebsamen Interessenten. Das hätte dem Wissenschaftler sicher auch anderswo passieren können, trotzdem erscheint es symptomatisch: Der lange Zeit unbeachtete Platz ist Junkies und Obdachlosen im Viertel vertrauter als den meisten anderen HamburgerInnen. Dabei liegt dort, zwischen Altona und St. Pauli, der älteste jüdische Friedhof Hamburgs und zugleich einer der bedeutendsten der Welt.

Jetzt koordiniert die Stiftung Denkmalpflege Hamburg ein Projekt zur Restaurierung und Erforschung des denkmalgeschützten Gräberfeldes aus der Zeit zwischen 1611 bis 1869. Brocke, Direktor des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg, leitet das auf fünf Jahre angelegte Projekt. In erster Linie geht es dabei um den Erhalt der Grabmale sowie um Dokumentation und Auswertung dieses Teils jüdischer Geschichte in Hamburg. Am Ende sollen sich aber auch unkundige Besucher auf dem Friedhof orientieren und die Geschichten, die die Gräber erzählen, verstehen können.

Einer, der die Geschichte und Geschichten vieler Gräber kennt, ist der Hamburger Sprachwissenschaftler Prof. Michael Studemund-Halévy. Er hat den sefardischen Teil des Friedhofs Königstraße erforscht, also den der spanisch-portugiesich-stämmigen Juden, und sich maßgeblich dafür eingesetzt, dass auch der ashkenasische Teil nun dokumentiert wird.

Hamburg hatte sich Ende des 16. Jahrhunderts zu einem Zufluchtsort für Glaubensflüchtlinge entwi-ckelt. Auch Sefarden, die in ihrer Heimat zwangsgetauft worden waren, flüchteten sich in das „Jerusalem des Nordens“, wie Studemund-Halévy es nennt. Diese gebildeten, eleganten und wohlhabenden Zuwanderer waren in Hamburg willkommen, weil sie kaufmännische Kontakte in alle Welt hatten. Dabei kümmerten sie sich zunächst weit weniger um jüdische Traditionen als die frommen und ärmeren Ashkenazim, also die deutschen bzw. osteuropäisch-stämmigen Juden. Trotzdem – und das ist eine Besonderheit, die diesen Friedhof einzigartig macht – sind die Sefarden und Ashkenazim an der Königstraße, in getrennten Arealen zwar, aber doch gemeinsam beerdigt.

Die verschiedenen Lebensweisen zeigen sich auch auf dem Friedhof: Anders als die Ashkenazim ehrten die Sefarden ihre Toten mit liegenden Grab-Platten. 1600 von ehemals 2000 sind erhalten. Besonders ins Auge fallen teure Zeltgräber aus Marmor; in einem von ihnen ist die einflussreiche Bankiersfamilie um Abraham Senior Teixeira bestattet, laut Studemund-Halévy „die Fugger Hamburgs“.

Die Zeltgräber sind, wie die anderen Gräber dieses Teils, aufwändig geschmückt und mit Bildern verziert – etwas, das die jüdische Tradition streng verbot. Wer bibelfest ist, kann aus den Bildern Rückschlüsse auf die Verstorbenen ziehen, denn die portugiesisch-spanischen Inschriften geben Besuchern auch wegen damals üblicher Abkürzungen Rätsel auf. Das Bild von Daniel in der Löwengrube ziert so zum Beispiel das Grab eines Mannes mit Vornamen Daniel.

Brocke erforscht nun den größeren, ashkenasischen Teil des Friedhofs. Knapp 4000 von ehemals 6000 Grabsteinen hier sind noch erhalten. Auffälligste Unterschiede zum portugiesischen Areal: Die Grabsteine stehen aufrecht, die Inschriften sind größtenteils hebräisch, Grabschmuck und Bilder finden sich hier nur sehr dezent. So deuten etwa abgebildete Hände auf die Priesterdynastie Cohen hin – der Verstorbene hieß also entweder Cohen oder entstammte einer Priesterfamilie. Begraben sind auf diesem Teil auch zwei bekannte Rabbis sowie Samson Heine, Vater des Schriftstellers Heinrich, und Salomon Ludwig Steinheim, Architekt, Philosoph und Namensgeber des Instituts, dem Brocke vorsteht.

Die so genannte Zweitüberlieferung steht für die Forscher als Ers-tes an: Jeder Grabstein wird fotografiert, die Inschriften werden übersetzt, alle Namen und Daten in Registern festgehalten. Das wird auch höchste Zeit, denn wie Studemund-Halévy bei seinen Recherchen festgestellt hat, haben Luftverschmutzung, Düngemittel und Erschütterungen durch S-Bahnverkehr den Steinen und ihren Reliefs weitaus mehr zugesetzt als die Jahrhunderte zuvor und selbst der Zweite Weltkrieg. Das Nazi-Regime hat der Friedhof dank eines Tricks überstanden, wie der Wissenschaftler beschreibt: Die Nationalsozialisten hatten schon geplant, Lagerschuppen, ein Kinderheim sowie Zwangsarbeiter-Baracken auf dem Friedhofsgelände zu errichten, da konnten Dr. Leo Lippmann und Dr. Max Plaut vom Jüdischen Religionsverband in Hamburg, sowie Hans W. Hertz, bis 1934 Mitarbeiter im Hamburger Staatsarchiv, durchsetzen, dass vor der Zerstörung alle Steine fotografiert werden sollten. Andernfalls gingen wichtige Daten für „rasse-kundliche“ Forschungen verloren. Und außerdem seien die Steine aus dem 17. und 18. Jahrhundert eine wichtige Quelle der Geschichte der Steinmetz-Kunst.

„Bet Olam“, das Ewige Haus, wie Friedhof im Jüdischen heißt, bietet auch heutigen Wissenschaftlern einzigartige Erkenntnisse: So kümmern sich Denkmalschutzamt Hamburg und Deutsche Bundesstiftung Umwelt nicht allein um die „vorsichtige Restaurierung einzelner Grabmale“, so Irina von Jagow, Geschäftsführerin der Stiftung Denkmalpflege. Für den Erhalt historischer Gebäude erhoffen sich die Forscher grundlegende Erkenntnisse. Wie reagiert welcher Stein auf Umweltbelastungen, wie kann man sie schützen? Insgesamt stehen für das Projekt Friedhof Königstraße 1,48 Millionen Euro zur Verfügung, darunter Spenden von Reemtsma-, Zeit- und Springer-Stiftung.

Wer den Friedhof besuchen möchte, fragt bei der Jüdischen Gemeinde Hamburg (Tel.: 440 9 440) nach dem Schlüssel, ihr gehört das Gelände. Ein Friedhofsführer von Michael Studemund-Halévy und Gaby Zürn ist im Buchhandel zu besTel.: tellen.

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