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Der Politiker als Gebrauchtwagenhändler

Die Rede von der Überversorgung hat mit der Lebenswirklichkeit in Berlin nichts zu tun, sagt der Kreuzberger Stadtrat für Stadtentwicklung, Franz Schulz (Grüne). Er vermisst eine politische Diskussion mit der Bevölkerung

taz: Herr Schulz, ist Berlin überversorgt?

Franz Schulz: Die Frage ist, woran man das festmacht. Seit drei, vier Jahren gibt die Finanzverwaltung als Maßstab den Städtevergleich mit Hamburg, Bremen, München vor. Es wird beispielsweise gefragt: Wie viele Obdachloseneinrichtungen – auf 1.000 Einwohner – hat Hamburg, wie viele hat Berlin? Wenn Berlin mehr hat, spricht man von einer Überausstattung. Mit der Lebenswirklichkeit hat das nichts zu tun. Fragen müsste man, wie viele Einrichtungen bezogen auf die Zahl der Obdachlosen es in der jeweiligen Stadt gibt.

Sind die spezifischen Berliner Probleme nicht in den Vergleich eingeflossen?

Nein. Es ist im Wesentlichen nur formal betrachtet worden.

Trotzdem wird mit dieser These hausieren gegangen.

Selbstverständlich. Weil sie auf den ersten Blick rational klingt und irgendwie überzeugend.

Auffallend ist, dass die Überversorgungsthese immer angewandt wird, wenn es um Dinge wie Schwimmbäder, Bibliotheken oder Jugendeinrichtungen geht. Nichts zu hören ist zum Beispiel von Golfplätzen …

Das liegt in der Natur der Sache. Die Diskussion kam zu dem Zeitpunkt auf, als der Haushaltsnotstand offenbar wurde und durch Kürzungen gekontert werden sollte.

In Ihrer Zeit als Bürgermeister mussten Sie gegen die Überversorgungsthese argumentieren. Wie haben Sie das gemacht?

Wir haben auf die Anzahl der wirklich Bedürftigen verwiesen, die von diesen Angeboten abhängig sind. Das hat ja auch bis 2000 gefruchtet. Nach dem Kassensturz von Sarrazin aber wird die buchhalterische Betrachtung mit ganz anderer Vehemenz neu belebt. So als hätte es in den letzten Jahren keine Sachargumente gegeben.

Wie reagieren Sie darauf?

Wir wehren uns. Die buchhalterische Betrachtungsweise ist völlig unzulänglich und lebensverfälschend.

Ist es richtig, dass in früheren Sparbeschlüssen die Bezirke bereits überproportional stark betroffen waren?

Nicht nur richtig, auch belegbar. Bezirke sind im Sachmittelbereich und im Personalbereich stärker gerupft worden als die Hauptverwaltung.

Wobei die Bezirke näher an der Bevölkerung sind.

Natürlich. Ganz überwiegend werden die staatlichen Leistungen im sozialen, kulturellen, jugendfördernden Bereich vor Ort durch die Bezirksämter, nicht die Senatsverwaltungen geleistet.

Werden mit Kürzungen Probleme gelöst?

Nicht, wenn sie am falschen Ort sind. Man kann beispielsweise Angebote für Arbeitslose kürzen. Die Arbeitslosen nehmen das dann vielleicht erst mal hin. Wenn es aber keine Unterstützungsangebote mehr gibt, werden sie andere Dinge machen, die vielleicht nicht den Regeln einer Stadtgesellschaft entsprechen. Spätestens dann könnte der Ruf laut werden nach Streetworkern oder aufsuchender Sozialarbeit, all dem, was ein paar Jahre zuvor abgebaut wurde.

Welche Alternativen sehen Sie, wenn Kürzungen unvermeidlich sind?

Ich bin überzeugt, dass Kürzungen unvermeidlich sind. Ich glaube sogar, dass bei dem brutalstmöglichen Kassensturz von Sarrazin noch eine Menge geschönt ist, und zwar in Milliardenhöhe. Aber ich glaube, dass man sich verständigen muss, welche Bereiche man in welchem Umfang und in welcher Qualität beibehalten will. Darüber muss man eine politische Auseinandersetzung mit der Stadtbevölkerung führen, damit man ein Ergebnis bekommt, das die Stadtbevölkerung akzeptiert. Diese Diskussion aber wird nicht geführt.

Sehen Sie langfristig eine Gefährdung der Demokratie?

Zumindest einen großen Vertrauensverlust in die Politik. Denn Politik müsste so eine politische Diskussion initiieren, besetzen und auch Schwerpunkte vorgeben. Der Vertrauensverlust drückt sich in sinkender Wahlbeteiligung aus. Auffallender aber ist, dass man den Berliner Politikern und Politikerinnen derzeit nicht einmal mehr die Glaubwürdigkeit von Gebrauchswagenverkäufern zugesteht.

INTERVIEW: WALTRAUD SCHWAB

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