„Es gibt keinen Anlass zur Dramatisierung“

Der Kriminalstatistiker bei der Polizei, Stephan Harnau, meint, eine gewisse Dunkelziffer bei der Kriminalität gehöre zu einem funktionierenden Sozialsystem. Er warnt vor einer Instrumentalisierung der Statistik. Erstaunlich wenig Morde

taz: Herr Harnau, Sie sind der Mann, der für die Polizei die jährliche Kriminalstatistik erstellt. Wie seriös sind Ihre Zahlen?

Stephan Harnau: Die Zahlen sind seriös. Ich muss aber einschränkend sagen, dass wir natürlich nur das Hellfeld der Kriminalität abbilden. Also die Straftaten, die der Polizei bekannt werden. Und das ist, wie man sich denken kann, von vielen Faktoren abhängig.

Folgt man der Gewerkschaft der Polizei (GdP), dann ist die tatsächliche Kriminalität in Berlin zehn mal höher, als es die Statistik wiederspiegelt.

Das kann man nicht so einfach und pauschal behaupten.

Aber GdP beruft sich auf wissenschaftliche Untersuchungen.

Es gibt zu diesem Thema sehr unterschiedliche Studien. Ich persönlich traue den Aussagen nicht, die sich auf die Summe aller Straftaten beziehen. Bis vor wenigen Jahren hieß es, die Kriminalstatistik erfasse rund die Hälfte aller tatsächlichen Straftaten. Neuere Untersuchungen aus Frankreich und England gehen davon aus, dass höchstens ein Viertel oder Fünftel aller Straftaten polizeilich registriert wird. Aktuellere Untersuchungen sprechen sogar davon, dass nur noch jede zehnte Tat erfasst wird.

Was ist von solchen Untersuchungen zu halten?

Bei diesen theoretischen Betrachtungen fehlt in der Regel die für die Seriösität notwendige, differenzierte, das heißt deliktspezifische Einzelbetrachtung. Wenn man alle Schmierereien und Beleidigungen anzeigen würde, die im persönlichen Nahbereich stattfinden und streng genommen Straftaten darstellen, könnte man das bis zum Gehtnichtmehr hochrechnen. Die Frage ist nur: Wollen wir das wirklich alles öffentlich verfolgen und damit zählen?

Heißt das, eine Gesellschaft muss mit einer Dunkelziffer leben?

Ein gewisses Dunkelfeld gehört zu einem funktionierenden Sozialsystem. Es ist nur normal, dass gewisse Bagatellformen auch ohne die Einschaltung von staatlichen Stellen zu regeln sind.

Von der Bagatellkriminalität abgesehen: Wo ist das Dunkelfeld am größten?

In der Wirtschaftskriminalität, Korruption und ähnlichem. Vor allem in Bereichen, die durch eine hohe Sozialschädlichkeit und ein geringes Entdeckungsrisiko gekennzeichnet sind. Auch Rauschgiftkriminalität, häusliche Gewalt und Sexualdelikte rangieren ganz weit oben.

Gerade was diese Delikte angeht, wird behauptet, das Dunkelfeld werde immer größer.

Dafür habe ich bisher keinen Beleg finden können. Im Gegenteil. Die sogenannte Bochumer Langzeitstudie, eine relativ gute Untersuchung in Deutschland, hat insbesondere für den Bereich Körperverletzung ergeben, dass die Neigung der Bürger, Anzeige zu erstatten, deutlich zugenommen hat.

Woran liegt das?

Als Polizist hoffe ich, dass es dran liegt, dass die Bürger größeres Vertrauen zu uns fassen. Die Bereitschaft, Strafanzeige zu erstatten, hat viel mit Aufklärung und bürgernahem Verhalten der Strafverfolgungsbehörden zu tun. Dass die Menschen sagen, wir können zur Polizei gehen, es wird nicht abgewiegelt.

Was sagen Sie dazu, wenn Standesorganisationen wie die GdP mit Verweis auf Kriminalstatistik und Dunkelfeld mehr Stellen und Geld für die Polizei fordern?

Meine Aufgabe als Kriminalstatistiker bei der Polizei ist es, ein möglichst realistisches Abbild der Kriminalität darzustellen. Demzufolge fühle ich mich auch persönlich angegriffen, wenn ich das Gefühl habe, dass Zahlen zu sehr instrumentalisiert werden. Wenn man die Statistik im langfristigen Vergleich richtig liest, wird man feststellen: Es gibt keinen Anlass zur Dramatisierung.

Was heißt das denn nun konkret?

Ich habe einmal in alten Unterlagen gewühlt. 1884 hat die Polizei in Berlin 24.366 Fälle bearbeitet. Im Jahr 2001 waren es 572.272 Fälle. 1884 verzeichnete die Statistik 201 Tötungsdelikte in Berlin. Im vergangenen Jahr waren es 240. Wenn man sich überlegt, dass sich die Einwohnerzahl seither fast verdreifacht hat, kann man sagen: Wir haben erstaunlich wenig Morde. Interview: PLUTONIA PLARRE

Stefan Harnau, 39, leitet als Erster Kriminalhauptkommissar (EKHK) bei der Berliner Polizei die Dienststelle für die Kriminalstatistik.