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Grün-grüne Fernsicht

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Auf der Strecke bleibt, was „die Menschen“, ob in Afghanistan oder bei uns, von ihrer Zukunft erwarten

„Wir müssen wissen, woher wir kommen, um zu wissen, wohin wir gehen“ Aus dem grünen Grundsatzprogramm

Zeitungslektüre besteht im Wesentlichen darin, Kontexte herzustellen und und dabei der Inspiration des Augenblicks zu vertrauen. Montags, wenn die Zeitungen das ganze Wochenende zu verarbeiten haben, bietet sich da ein besonders ergiebiges Feld. Medienhistorisch gesehen hat sich dabei übrigens einiges verändert. In der frühen Nachkriegszeit war Montag Spiegel-Tag; Augstein und seine Leute erklärten uns die Welt und lasen Adenauer die Leviten. Davon konnte man eine ganze Woche leben. Dann kam das Fernsehen, und der Montag wurde zum „Panorama“–Tag. Das war die Zeit von Aufklärern wie Eugen Kogon und Peter Merseburger; die Welt hatte klare Strukturen, und es kam immer ein schwarzer Tag für die Regierung dabei heraus. Die hatte dann eine ganze Woche lang die Schelte abzuarbeiten.

All das ist heute anders. Der Spiegel ist ein buntes Magazin unter vielen anderen, und „Panorama“ gibt es mal hier, mal dort, jedenfalls nicht mehr auf dem alten Sendeplatz. Die Welt ist unübersichtlich geworden, und darum müssen wir uns zum Wochenanfang auf unsere Inspiration verlassen und den unfreiwilligen, aber durchschlagenden Erkenntnisblitzen des Zeitungslayouts vertrauen.

An diesem Montag machte die Frankfurter Rundschau, wie fast alle anderen Zeitungen auch, mit einem Bericht über den Parteitag der Grünen auf. Daneben druckte sie ein großes Foto: „US-Armee sieht neue Ziele in Afghanistan“. Aus dem Bericht war zu erfahren, dass unsere Gesellschaft laut Beschluss der Grünen bis zum Jahre 2020 modernisiert werden solle. Auf dem Foto blicken drei Elitesoldaten angestrengt in die blaue Luft, zwei halten Ferngläser vor die Augen. Der Bericht meldet: Zum Zweck der Modernisierung haben sich die Grünen 12 Schlüsselprojekte und ein „Netz von Grundwerten“ ausgedacht. Der Autor der Textzeilen unter dem Foto kommentiert, nach der heftigen Offensive im Osten wolle die US-Army nun ihre Aufmerksamkeit auf andere Gegenden des Landes richten, möglicherweise komme jetzt mal der Süden dran.

Keineswegs wollte sich die Zeitung einen grimmigen Witz leisten. Auf diese Idee könnte man kommen, denn die Linsen der Ferngläser auf dem Foto sind knallgrün, sozusagen grün-grün eingefärbt. Aber das ist vermutlich der gewohnt schlechten Buntdrucktechnik geschuldet. Bild-Text-Collagen von hohem, wenngleich nicht beabsichtigtem Erkenntniswert kommen einfach durch die Technik des Zeitungsumbruchs zustande. Sie verdanken sich in aller Regel der Tatsache, dass die Betriebsblindheit der Layouter nur noch von der großen Ratlosigkeit in der Welt übertroffen wird. Von den Spekulationen der Politiker, die im Nebel des 21. Jahrhunderts stochern, und von den Aufklärungsversuchen verirrter Anti-Terror-Soldaten, die ihre Ferngläser mal in diese, mal in jene Himmelsgegend richten.

Die sozialpolitische Lage Deutschlands im Jahre 2020 dürfte mindestens ebenso unklar sein wie die Frage, in welcher Ecke Afghanistans sich derzeit die noch verbliebenen Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer zusammenrotten. Fest steht gegenwärtig nur, dass zurzeit 4,3 Millionen Menschen in unserem Land ohne Arbeit sind und in Afghanistan circa 4.000 Menschen von den amerikanischen Bomben getötet wurden, ohne dass der Krieg gegen den Terrorismus merkliche Fortschritte erzielt hätte. Wir wissen wenig, aber immerhin haben wir jetzt eine Achse des Bösen, und die Grünen haben ein neues Parteiprogramm. „Grün2020“: fast vier Fünfjahrespläne auf einen Schlag; mit den Hightech-Fernstechern auf dem Foto haben sie gemeinsam, dass sie die Differenz zwischen Wissen und Nichtwissen überbrücken wollen.

Nun ist in zweierlei Hinsicht das grüne Programm mit großer Vorsicht zu lesen. Zum einen ist Wahljahr, d. h., das Papier erfüllt zunächst einmal als Mittel im Wahlkampf eine hochaktuelle Funktion: im Blick auf die Wählerklientel, die den Grünen in den letzten Jahren verloren ging – und auf die andere Klientel, die noch nicht weiß, ob sie mit Westerwelle oder mit Fischer ins Ungewisse aufbrechen soll. Im Bemühen um Fernsicht kann das Programm der bedrängenden Nähe, nämlich den Zerreffekten des laufenden Schönheitswettbewerbs, gar nicht entgehen. Eine weitere Perspektivverkürzung ist der grünen Vergangenheit zuzuschreiben, die den neuen Grundsätzen als Mühlstein anhängt und in etlichen langen Besinnungsaufsätzen reflektiert, aufgearbeitet und sodann, als Relaunch, ins Futurum umgeschrieben werden musste. Politische Prosa schafft fast alles, aber als Textsorte, die prognostische Qualität beansprucht, ist sie unter den gegebenen Bedingungen nicht viel wert. Auch die GIs auf dem Foto haben ihren Fernstecher vermutlich nur für den Fotografen aufgesetzt.

Ein Parteiprogramm, das auch nur den kalkulierbaren Entwicklungen bis 2020 oder gar darüber hinaus gerecht werden sollte, kann in der Kurzatmigkeit, in der von einer Wahlperiode zur anderen Politik konzipiert wird, nicht geschrieben werden. Ein Beispiel: Nach offiziellen Statistiken, die kürzlich der Migrationswissenschaftler Dieter Oberndörfer eindringlich kommentiert hat, wird sich unsere Bevölkerung (deutscher und nichtdeutscher Herkunft) bei gleich bleibender Geburtenrate bis 2050 von derzeit 82 auf 58 Millionen verringern; gleichzeitig wird das statistische Durchschnittsalter auf 55 Jahre steigen. „Damit werden alle derzeitigen Entwürfe für die Rentenreform und die Sicherung der Gesundheitsversorgung Makulatur.“ Die Folgen: Abnahme der Konsumenten um circa 28 Prozent, Zusammenbruch der Immobilien- und Kapitalmärkte, sinkender Wohlstand, steigende Anforderungen an die öffentlichen Finanzen, breite Auswanderungsbewegungen. All das ist errechenbar.

Das Programm ist für die, die nicht wissen, ob sie mit FDP oder Grünen ins Ungewisse aufbrechen sollen

Errechenbar ist auch, dass nur durch eine jährliche Nettozuwanderung von 350.000 bis 500.000 Menschen und eine Kehrtwende in der Familienpolitik die Bevölkerungszahl Deutschlands bis 2050 gehalten werden könnte. Beim derzeitigen Stand der Zuwanderungsdebatte würde keine Partei diese Zahl in ihr Programm schreiben. (Auch die Grünen nicht; ihr Besinnungstext zur Einwanderungsgesellschaft geht nur mit einem Satz auf den demografischen Zusammenhang ein.) Und bei der derzeitigen Haushaltslage würde es keine Partei wagen, Vorschläge zur Finanzierung einer Familienpolitik zu machen, die den ökonomischen und sozialen Niedergang aufhalten oder zumindest abbremsen könnte.

Mit der Modernisierung Deutschlands verhält es sich also ähnlich wie mit dem Krieg gegen den Terrorismus: Die Fernsicht, die hier wie dort vonnöten wäre, ist gefährlich reduziert. Die verfügbaren Instrumente taugen allenfalls dazu, ein MG-Nest in einer Felshöhle auszumachen beziehungsweise den Wahlkampf zu überstehen. Auf der Strecke bleibt das, was „die Menschen“ – ob in Afghanistan oder demnächst möglicherweise im Irak oder bei uns – legitimerweise von ihrer Zukunft erwarten. Zumindest erhoffen sie dies: dass die gewählten oder aus dem Himmel über sie hereinbrechenden Entscheidungsträger imstande seien, das jeweils Schlimmste abzuwenden.

Fotohinweis: Klaus Kreimeier ist Publizist und Medienwissenschaftler.

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