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Politisch und moralisch kapituliert

Die Verbrechen der Wehrmacht sind seit der erfolgreichen Ausstellung über den „Vernichtungskrieg“ allgemein bekannt. Wolfram Wette schildert nun, wie es zum Niedergang des Militärs kam und warum dieser bis vor kurzem ignoriert wurde

Nach dem Krieg setzten verlogene Militärs „den Truppen ein Denkmal“

von RUDOLF WALTHER

Im August 1941 ermordete ein SS-Sonderkommando in Bjelaja Zerkow bei Kiew 90 jüdische Kinder. Sie waren in einer Schule eingeschlossen, ihre Eltern bereits deportiert. Der couragierte Oberstleutnant Helmuth Großcurth war zuvor mit einem Versuch gescheitert, die barbarische Tat zu verhindern. Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, der Kommandant der 6. Armee, hatte befohlen, „dass die einmal begonnene Aktion“ – alle Juden zu vernichten –, „in zweckmäßiger Weise durchzuführen“ sei.

Die Dokumente, die den Vorgang belegen, wurden 1970 publiziert, blieben aber quasi das Geheimnis von hoch spezialisierten Historikern. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr erst 1995 durch die umstrittene Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–45“ davon. 50 Jahre nach dem Krieg zerbarst die deutsche Lebenslüge, wonach die Wehrmacht einen sauberen Krieg“ geführt hatte und nur nationalsozialistisch indoktrinierte Sondereinheiten – die Einsatzgruppen – Verbrechen begangen hatten. Am Mord an den 90 jüdischen Kindern wirkten außer dem Kommandanten der 6. Armee mit: die Ortskommandantur, die Feldkommandantur, die geheime Feldpolizei, zwei Kriegspfarrer und der Stabsoffizier Großcurth. Das ebenfalls beteiligte SS-Sonderkommando meldete später wahrheitsgemäß „die tatkräftige Unterstützung“ durch die Wehrmacht.

Der Militärhistoriker Wolfram Wette zeigt in seinem kundigen und gut lesbaren Buch „Die Wehrmacht“: Die Zusammenarbeit von Armee und staatlichen Mörderbanden war kein Einzelfall, sondern gängige Praxis während des deutschen Vernichtungskrieges im Osten. Besiegelt wurde der Schulterschluss der deutschen Generalität mit Hitler und dem Nationalsozialismus am 30. März 1941, kurz vor Beginn des Angriffs auf die bis dahin verbündete Sowjetunion. In einer zweieinhalbstündigen Geheimrede vor jenen 250 Generälen, die das drei Millionen starke Heer im Osten befehligten, bezeichnete Hitler den Bolschewismus als „asoziales Verbrechertum“. Um dieses zu bekämpfen gelte es, sich vom „Standpunkt des soldatischen Kameradentums“ zu verabschieden. Hitler distanzierte sich damit vom herrschenden Kriegsvölkerrecht wie dem soldatischen Ehrenkodex. Und die eher konservative militärische Elite? Sie protestierte nicht dagegen, sondern machte sich „weitgehend die Hitlerschen Intentionen zu eigen“, wie schon der Historiker Jürgen Förster nachgewiesen hat.

Wette erklärt anschaulich, wie es zu dieser moralischen und politischen Kapitulation gekommen ist: Antisemitismus gehörte schon in der Armee des Kaiserreichs (1870–1917) zur ideologischen Grundausstattung der Elite. Kaiser Wilhelm II. verlangte von seinen Offizieren ausdrücklich eine „christliche Gesittung“, was dazu führte, dass es 1911 nur 26 jüdische Reserveoffiziere gab. Die Feindschaft gegen Russland und eine rassistisch unterlegte Verachtung der Slawen sind weitere Strukturmerkmale der militärischen Elite im Kaiserreich.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg fantasierten sich die militärische und die politische Führung einen „unvermeidlichen Existenz- und Endkampf“ (Fritz Fischer) zwischen Slawen und Germanen zurecht. Mit der russischen Revolution von 1917 und der deutschen Niederlage 1918 verstärkte sich dieses antirussische Feindbild bei deutschen Militärs zum Klischee des „jüdischen Bloschewismus“.

Auch in der Zeit der Weimarer Republik (1919–1933), als die Armee „Reichswehr“ hieß, änderte sich an der antisemitischen und antibolschewistischen Grundeinstellung des Offizierskorps nichts. Mit dem Wehrgesetz wurde elf Jahre später die Reichswehr in „Wehrmacht“ umgetauft und die von Blomberg schon 1934 freiwillig eingeführte Überprüfung der „arischen Abstammung“ legalisiert: „Ein Jude kann nicht aktiven Wehrdienst leisten.“ In den Schulungsheften der Wehrmacht war von nun an von Juden nur als „Fremdkörpern, Schmarotzern und Krankheitserregern“ die Rede. Diese „rassistische Indoktrination“ war eine Voraussetzung für den Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg im Osten.

Viele Befehle verschleierten die wahren Absichten und sprachen von „besonderen Aufgaben“, wenn eigentlich Massenexekutionen von Zivilisten gemeint waren – wie beim Massaker von Babi Jar Ende September 1941. 33.771 ukrainische Juden wurden damals ermordet. Die Wehrmacht erbat ausdrücklich „radikales Vorgehen“ durch das SS-Mordkommando der berüchtigten Einsatzgruppe C. Und Generalfeldmarschall von Reichenau ermunterte seine Soldaten gleichzeitig zur „harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum“ mit dem Befehl: „Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch der Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und anverwandtem Volkstum zugefügt wurden.“ Das waren, wie Wette an mehreren Beispielen belegt, „Freibriefe für beliebige Gewaltsamkeiten.“

Die Wehrmacht war nicht nur, wie es nach 1945 beschönigend hieß, in Verbrechen anderer Einheiten „verstrickt“, sondern spielte eine aktive Rolle bei diesen Verbrechen. In Serbien etwa entwarf und praktizierte die Wehrmacht allein „ein regionales Modell zur Lösung der Juden- und Zigeunerfrage“ (Walter Manoschek). In Litauen wurden deutsche Offiziere Augenzeugen von Pogromen, und einer von ihnen erörterte schriftlich die Frage, ob es nicht besser wäre, jüdische Männer zu sterilisieren, statt sie sinnlos totzuschlagen.

Von wenigen Widerstandsaktionen abgesehen, war die Wehrmacht bis zum Schluss Teil „einer geschlossenen, kriegerischen Volksgemeinschaft“, die noch im Angesicht der Niederlage selbstzerstörerisch ihren „Duchhaltewillen“ bewahrte.

Im letzten Kapitel seines Buches beschreibt Wette, wie es gelang, die zähe Legende von der „sauberen Wehrmacht“ in die Welt zu setzen. Die wichtigste Voraussetzung: Bis in die 80er-Jahre interessierten sich weder Wissenschaft noch Öffentlichkeit für den Zusammenhang von Wehrmacht und Judenvernichtung. Die Grundlage für diese Trennung hatten bereits die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg geschaffen, wo man aus formaljuristischen Erwägungen darauf verzichtete, Generalstab und Oberkommando der Wehrmacht als „verbrecherische Organisationen“ zu verurteilen. Auch den Anklagepunkt „Angriffskrieg“ ließ man fallen.

Beides zusammen nahm die Öffentlichkeit als eine Art Freispruch für die Wehrmacht. Parallel dazu sorgten Wehrmachtsoffiziere mit ihren beschönigenden Memoiren unter der Devise „verlorene Siege“ (so Generalfeldmarschall Erich von Manstein) für das Bild eines „sauberen Kriegs“. Mit dem Aufkommen des Kalten Krieges verloren die Alliierten schnell ihr Interesse an weiteren Prozessen. Dafür betrauten sie ausgerechnet 328 deutsche Offiziere unter Leitung von Generaloberst Franz Halder damit, die Geschichte des Krieges zu schreiben.

Bis 1948 produzierte diese „Historical Divison“ der US Army rund 1.000 Manuskripte mit insgesamt 34.000 Seiten Text. In dieser Literatur, die bis in die Sechzigerjahre ohne Konkurrenz durch kritische Forschung blieb, erscheint die Wehrmacht und besonders deren Führung als „Opfer Hitlers“. Die Leitlinie der apologetischen Geschichtsschreibung gab Generalfeldmarschall Georg von Küchler in eigenwilliger Formulierung vor: „Es werden die deutschen Taten, vom deutschen Standpunkt gesehen, festgelegt und dadurch unseren Truppen ein Denkmal gesetzt.“ „Kritik an Führungsmaßnahmen“ war ausdrücklich unerwünscht.

Die Zerstörung der Legende von der „sauberen Wehrmacht“ begann Ende der Sechzigerjahre, als kritische Militärhistoriker das Monopol der Memoirenliteratur und der Arbeiten aus der „Historical Division“ durchbrachen. Freilich wurden diese Forschungen, wie auch die späteren, in denen die Trennung von Kriegs- und Holocaust-Forschung überwunden wurde, zunächst nur einem recht kleinen Kreis von Fachwissenschaftlern bekannt. Neue regionale Detailstudien belegen, „dass alle in den besetzten Gebieten tätigen Organisationen und Behörden in einem viel stärkeren Maße zusammenarbeiteten, als bisher angenommen wurde.“

Wolfram Wette bilanziert in seinem Buch ebenso knapp wie verständlich den Stand der Forschung und macht ihn so einem breiten Publikum zugänglich.

Wolfram Wette: „Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002, 370 Seiten, 24,90 €

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