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Der Traum von einem europäischen Gaullismus

Egon Bahr fragt in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung, wie die EU der Übermacht der USA entkommen kann – und weiß auch keine Antwort

Man geht nicht ohne Befürchtung zu einem Gespräch zwischen Günter Gaus und Egon Bahr. Beide sind Helden der Entspannungspolitik, die Bahr vor 40 Jahren erfand. Das ist lange her, die Gefahr, nostalgisch zu werden, groß. Mit den Abrüstungskonzepten der 80er kann man vielleicht gegen die Gegenwart Recht behalten, verstehen kann man sie damit nicht.

Es kam anders. „Nichts Rückwärtsgewandtes“ versprach Gaus, Bahr hielt sich daran und anlysierte hellsichtig die Beziehungen zwischen den USA und Europa. Der Atlantik ist breiter, Europa seit 1990 geostrategisches Randgebiet geworden. Die Musik spielt heute in Zentralasien und Nahost. Die USA, so Bahr, sind militärisch allen anderen Staaten überlegen – dauerhaft und uneinholbar. Die Nato wird als schöne Leiche noch eine Weile aufgebahrt. Die USA brauchen die EU nicht mehr, das posttotalitäre Europa braucht keinen großen Bruder mehr. Die historisch verschuldete Unmündigkeit Westeuropas gegenüber den USA, die im Kalten Krieg für den atomaren Schutz von Sizilien bis zum Nordkap sorgten, ist vorbei. Die Unterwürfigkeit Europas existiert noch (man denke an Joschka Fischers Satz: „Wir haben unseren Verbündeten nicht zu kritisieren“) – aber sie ist ein Haltungsschaden von gestern. Europa, so Bahr, „ist volljährig geworden“ und sollte, ohne Groll, zu Hause ausziehen.

Das ist die große Linie: Kleinteiliger gesehen ist die Sache unendlich vertrackt. Die USA werden, so Bahr, in den nächsten Jahren versuchen, ihr Raketenabwehrsystem MD zu exportieren. Wenn Europa ja sagt, wäre die atomare Abhängigkeit des Kalten Kriegs wiederhergestellt. Die Briten wollen MD, Polen vielleicht, Paris sagt nein, Berlin weiß noch nicht. Kissingers Pointe – „Europe – what’s the telephone number?“ – ist sehr, sehr alt, aber noch immer zitierfähig.

Europa ist kein politisches Subjekt – diese Erkenntis ist nicht neu, aber nicht zu ändern, daher endet die Debatte rituell in Händeringen. Bahr, der erfreulich viel von Interessen und wenig von Moral redete, definierte immerhin zwei Ziele. Europa braucht eine eigene, defensive Armee, um militärisch unabhängig von den USA zu sein. Und: Europa muss verhandeln statt schießen. Die EU-Staaten sind die Schwächeren – und die Schwachen wollen immer „das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts ersetzen“ (Bahr). Ein Merksatz. Neu ist die internationale Arbeitsteilung zwischen USA und Europa allerdings nicht. Im Kosovokrieg, der bei Bahr seltsamerweise fehlte, war dies der Fall: Die USA gaben militärisch den Ton an, die EU-Staaten diplomatisch. In dieser Arbeitsteilung ist die Ohnmacht der EU beschlossene Sache.

Die Macht der USA begrenzen – das klingt in pazifistischen Ohren gut. Aber es hat seinen Preis. Es kostet viel Geld für eigene Rüstung. Und es verlangt den Willen, nächstes Mal nicht auf die USA zu warten, wenn in Europa ethnische Kriege toben.

Die Ostpolitik war neben dem Gaullismus die einzige machtpolitisch taugliche europäische Idee im Kalten Krieg. Beides sind Traditionsstränge, auf denen eine eigenständige EU-Politik aufbauen kann. Deshalb ist einleuchtend, dass Bahr, vereinfacht gesagt, auf eine Fusion dieser beiden Ideen zielt: auf eine EU-Armee ohne Atomwaffen.

Am Ende sagte Egon Bahr einen traurigen, wahren Satz: „Ich weiß nicht, was Europa will.“ Es ist nicht seine Ratlosigkeit, es ist unsere. STEFAN REINECKE

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