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Karsais glücklichster Tag

Für andertalb Millionen afghanische Kinder beginnt wieder der normale Schulalltag. In einer groß angelegten Operation wurden im ganzen Land Tafeln, Hefte, Bücher und Bleistifte verteilt

aus Kabul BERNHARD IMHASLY

Wer bisher vergeblich nach Leistungen der afghanischen Interimsregierung Ausschau gehalten hat, kam am Wochenende endlich auf seine Rechnung. Am Samstag gingen 1,5 Millionen Kinder wieder in die Schule. Für die Jungen war es der erste Schultag nach sechs Monaten und für die Mädchen der erste seit sechs Jahren. Und für das Land war der 23. März „ein historisches Ereignis“, wie Regierungschef Hamid Karzai bei der offiziellen Eröffnungszeremonie am Amani-Gymnasium in Kabul sagte, der „glücklichste Tag“, fügte er hinzu, seiner dreimonatigen Regierungszeit. Auch der Afghanistan-Beauftragte der UNO, Lakhdar Brahimi, meinte, er habe in den letzten drei Monaten eine Reihe von historischen Augenblicken erlebt, „doch keiner weckt so viele Emotionen wie dieser“.

In der Halle der von Deutschland unterstützten Oberrealschule waren diese deutlich: Karsai stockten die Worte, als er von den 23 Jahren erzählte, in denen das gesamte Unterrichtswesen des Landes ruiniert wurde. Und vielen seiner Zuhörern, darunter wild aussehenden Mudschaheddin, rollten die Tränen herunter, als er sagte, mit diesem Tag erhalte Afghanistan wieder eine „Zukunft mit Hoffnung“.

Der Gefühlsausbruch ist verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass dies nicht einfach der erste Schultag nach einer längeren Unterbrechung war. Der Krieg und die Taliban-Herrschaft hatten Millionen von Menschen in die Flucht getrieben und jeden Unterricht unmöglich gemacht. Auch für die Zurückgebliebenen war nichts wie zuvor. Die Lehrer waren ebenfalls auf der Flucht oder mussten, weil die Mehrheit der Lehrkräfte Frauen waren, in den Untergrund gehen.

„Afghanistan ist wohl das einzige Land, in dem der Analphabetismus zugenommen hat“, sagte der Unicef-Mitarbeiter Sayed Khalil Qazim. 1999, so schätzte das UNO-Kinderhilfswerk, gingen etwa 8 Prozent der Mädchen in die Schule.

Der erste Schultag am Samstag war daher nicht einfach des Ende langer Schulferien. Karzai hatte bei seinem Regierungsantritt erklärt, neben der Sicherheit nehme Erziehung die höchste Priorität ein. Zusammen mit Unicef und dem Einsatz von 50.000 Lehrern lancierte das Erziehungsministerium den Plan „Zurück in die Schule“. Innerhalb von drei Monaten sollte ein Drittel der schulpflichtigen Kinder von 4,4 Millionen wieder einschult werden, ausgestattet mit Schiefertafeln, Büchern, Bleistiften und Heften. Es war eine Generalstabsoperation, bei der 7 Millionen Textbücher, 60.000 Hefter mit Lehrermaterialien und 18.000 Wandtafeln in 3.000 Schulen bereitgestellt werden mussten.

Bereits ein Blick in die Schulen von Kabul zeigt, wie schwierig die Lage in den Provinzen erst sein muss. In der Jamhuriyat-Haushaltsschule für Mädchen, keinen Kilometer vom Erziehungsministerium entfernt, sind die Fenster mit Plastikbahnen verhängt, die Stromleitungen herausgerissen und die Einrichtungen verschwunden. In einem der Gebäude hat sich eine Madrasse, eine religiöse Schule, eingerichtet, nachdem die Taliban die Schule 1996 konfisziert hatten. Nun kämpft Halima, die Vorsteherin, um die Rückgabe der Gebäude. Das wird nicht leicht sein, denn die Madrasse hat sich nach dem Sturz der Taliban rasch umgestellt. Im ersten Stock unterrichtet sie nun auch Mädchen, und sie hat Biologie in ihren Lehrplan aufgenommen, mit einem Lehrbuch, bei dem gar der menschliche Körper abgebildet ist.

Der Nachwuchs ist das größte Problem der Schule, die 1996 3.500 Mädchen nach der achten Klasse im Schneidern und Nähen, in Kochen, Kinderhygiene und Erster Hilfe unterrichtet hatte. Auch in Kabul haben die Mädchen die ersten sechs Schuljahre verpasst, weshalb Halima einen Lehrplan erstellen muss, der neben diesen Fächern Lesen und Schreiben einschließt.

Doch die meisten Mädchen, die am Samstag zum ersten Mal in die Schule gingen und nun mit halb so alten Jungen in die erste Klasse gehen, scheinen sich nichts aus diesem Altersunterschied zu machen. Gerade in Kabul hatten viele in den letzten Jahren heimlich Unterricht erhalten, waren von ihren Müttern oder Nachbarsfrauen unterwiesen worden. „Dies hat ihnen“, so meint Hassina Sherjan, „das Gefühl gegeben, dass Lesen und Schreiben etwas Revolutionäres ist, etwas, das ungeheuer viel Bedeutung hat.“ Die elfjährige Fazila, die mit ihrem beinahe gleichaltrigen Bruder Keis am Montag zum ersten Mal in die Quartierschule von Parwan Seiwum ging und fünf Klassen tiefer beginnen musste, hat nun ein konkretes Ziel: in drei Jahren, sagt ihr Vater Emamuddin Warzidah, wolle sie mit ihm gleichziehen.

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