: Jeder ist ein Migrant
Lasst uns über Omma Finkenwerder reden: Silvia Szymanski arbeitet weiter an ihrer Ästhetik der Provinz – kaum Sex im Roman „652 km nach Berlin“
von ULRICH NOLLER
Winterschlussverkauf bei Silvia Szymanski: „652 km nach Berlin“, das neue Buch der heimlichen Königin des Provinzromans, lockt mit einer eingepappten Best-of-CD: Zehn Tracks mit Ausschnitten aus Szymanskis Geschichten, eingebettet in Easy-Listening-Klänge ihrer Band Tortuga Jazz; und das alles ohne Aufpreis.
Ihr Versprechen hat Silvia Szymanski dabei aber nicht so ganz gehalten. Kein Sex, so hatte sie vor Jahresfrist das jetzt erschienene Buch angekündigt. Sie habe alles gesagt, was sie über Sexualität wisse, hatte Szymanski in Interviews hinzugefügt, beim nächsten Mal werde sie lieber über ihre „Omma“ schreiben. Das stimmt zwar. Fast alle Texte der Bonus-CD stammen aber aus „Agnies Sobierajski“, dem letzten Roman, und weil Autorin und Band das Ganze hübsch abgründig umgesetzt haben, kommen Liebhaber der zwischen Poesie und Pornografie oszillierenden Prosa Szymanskis doch noch einmal voll auf ihre Kosten.
„652 km nach Berlin“, der neue Roman, zeichnet sich demgegenüber, wie der Verlag auf seiner Homepage ankündigte, tatsächlich durch „eine gewisse Dezenz“ aus: Zwei, drei Mal, man merkt es, schrammt die Erzählerin an Hoheliedern auf Liebestechniken, Körpersäfte und Genitalformen nur knapp vorbei, und nur einmal wird sie ganz konkret: Amir, der Liebhaber, schlägt Sophia Sowa, die Erzählerin, da sanft mit einer kleinen Peitsche und führt ihr Kugeln in die Vagina ein, während sie die Finger zärtlich in seinen After wühlt.
Man könnte der Autorin also, wieder einmal, Pornografie vorwerfen; und man könnte ihr, einmal mehr, zugute halten, welch scheue Sehnsucht solche Sentenzen atmen. Geschenkt. Denn tatsächlich hat die Szene vor allem erzähltechnische Bedeutung. Sie ist nicht nur eine Reminiszenz an die vergangenen, die „Jugendwerke“ der Autorin, sondern sie markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Prosa Szymanskis: Liebesgeschichten und Liebesakte, bisher das Zentrum des erzählerischen Kosmos der 44-Jährigen, rücken an den Rand. Dinge, Passanten und Landschaften, die bisher das Setting ausmachten, stehen dafür im Zentrum.
Auf zwei verschiedenen Handlungsebenen erzählt Silvia Szymanski dabei tatsächlich von ihrer „Omma“. Oma Finkenwerder, die lange tot sein muss, heißt so, weil sie einige Jahre in Finkenwerder lebte. Finkenwerder, früher ein berühmt-berüchtigtes Schmugglereldorado, das ist heute ein versinkendes Dorf, an der deutsch-belgischen Grenze; nur wenige, meist unbewohnte Häuser stehen noch, der Rest wurde längst vom Braunkohletagebau geschluckt. Immer wieder mal verirren sich Sophia Sowa und ihr Freund Amir aus der Kreisstadt in den Geisterort; sei es, weil sie ein Haus ausräumen, um Trödel für den Flohmarkt abzustauben; sei es, weil Amir sich vor rachsüchtigen Verwandten in einer der Ruinen versteckt. Sophia im Alltag, wie sie Bus fährt, einkauft, im Café sitzt, fernsieht oder eben ihre Zeit mit dem Geliebten verbringt, das ist dabei die eine, die gegenwärtige und zentrale Ebene des Romans. Auf der anderen, zwischenmontierten, versucht Sophia sich an einer Vergegenwärtigung ihrer Jugend, und in diesen Rückblenden, Erinnerungsfetzen und Traumsequenzen spielt die „Omma“ naturgemäß natürlich ebenfalls eine gewichtige Rolle.
Hier wie dort tritt die alte Dame auf der Handlungsebene im Grunde genommen nicht in Erscheinung, ist als Projektion und Reminiszenz aber allzeit präsent. Oma Finkenwerder ist der Fluchtpunkt, und das verbindende Glied der beiden Erzählstränge insofern, als sie ganz verschiedene und doch verwandte Migrationsbiografien erzählen. Hier der muslimisch geprägte Flüchtling Amir, den familiäre Verpflichtungen und Erwartungen zermürben. Dort die nur scheinbar durch und durch deutsche Sophia, die immerzu und allerorten auf Zeugnisse ihrer polnischstämmigen Familiengeschichte stößt. Auch und gerade in der tiefsten Provinz, im regionalsten Euregio, will das sagen, hat jeder seine Migrationsbiografie, es kommt nur darauf an, wie weit nach hinten man schaut. Eine Binsenweisheit, durchaus. Eine Binsenweisheit aber, der Silvia Szymanski eine ganz ungewohnte Dynamik verleiht. Migranten der zweiten, dritten, vierten, x-ten Generation dienen ihr nicht nur zur Staffage, sondern sie sind die Helden der Geschichte. Und sie sind ein wesentliches Element der Ästhetik der Provinz, die diese Autorin entwirft.
Diese Ästhetik, nicht ihr tabuloser Umgang mit Sexualität, macht Silvia Szymanski zu der ganz besonderen Stimme in der jüngeren deutschen Literatur, als die sie immer wieder mal gern bezeichnet wird. Mit offenen Augen und im besten Sinne staunend entführt sie in eine Welt, die von den Wohlstandsparzellen der Besserverdienenden und Medienschaffenden so weit entfernt ist wie Aachen von New York; in die Welt derer, die den Anschluss längst verpasst haben oder ihn mit Sicherheit demnächst verpassen werden: Sozialjunkies, Migranten, Rentner und Modernisierungsverlierer, deren große Abenteuer sich in Linienbussen, Freibädern und Urban-Filialen abspielen. 652 Kilometer von Berlin entfernt, arbeitet Silvia Szymanski sprachlich, in der Figurenzeichnung, in Bildern, Landschaften und sogar im Design einzelner Gegenstände an einem, an ihrem Sittenbild des Kleinstadtlebens. Ihr Zugang ist dabei, so verlockend es auch sein könnte, nicht sozialkritisch, sondern rein ästhetischer Natur: So kitschig, überdreht, arm und plüschig es auch sein mag – was Silvia Szymanski sieht, wird dadurch, wie sie es sieht, zu etwas ganz Besonderem, zu etwas Schönem.
Dass die Autorin ihrem Roman ein Hörbuch beilegt und diesen Doppelpack zum Preis von einem verkauft, mag nach Ramsch riechen. Der Qualität des Projekts tut das keinen Abbruch. Im Fall von Silvia Szymanski ist so eine Verkaufspolitik schlicht konsequent.
Silvia Szymanski: „652 km nach Berlin“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 208 Seiten, 21,90 €
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