: Späte Anklage nach fast 60 Jahren Ruhe
Der mutmaßliche SS-Mörder Friedrich Engel lebte lange unbehelligt in Hamburg. Jetzt muss er doch noch vor Gericht
Gut möglich, dass Friedrich Engel jetzt für ein paar Tage auf sein geliebtes Hobby verzichten muss. Gewöhnlich lassen sich 93-jährige Rentner ja gern mit Spaten und Schubkarre fotografieren, der Greis aus Hamburg-Lokstedt aber ist ziemlich kamerascheu. Schließlich interessiert er die Medien nicht als leuchtendes Beispiel aktiven Ruhestands, sondern als SS-Mann und Massenmörder, gegen den die Staatsanwaltschaft Hamburg jetzt Anklage wegen der Erschießung von 59 Inhaftierten erhoben hat.
Bevor Engel in der Nachkriegszeit zum braven Edelholz-Importeur mutierte, ging er nämlich einem ganz anderen Beruf nach: Direkt nach dem Studium war er zum NS-„Sicherheitsdienst“ (SD) gestoßen. Zunächst im besetzten Norwegen tätig, wurde er in den Jahren 1944–45 SD-Chef in Genua und hatte damit die in Ligurien operierenden SS- und Gestapoeinheiten unter sich. Darf man ihm selbst glauben, dann ist er auch in diesem Job anständig geblieben. So anständig, dass die Genuesen ihm eigentlich ein Denkmal schuldig wären. Schließlich habe er die von Hitler angeordnete Zerstörung des Hafens verhindert.
Statt eines Denkmals gab es für Engel in Italien schon 1999 lebenslänglich, wegen 246-fachen Mordes. Vier Massenerschießungen von Partisanen und politischen Gefangenen zählt der Turiner Schuldspruch auf. Engel – der sich wohlweislich vom Prozess fern gehalten hatte – dagegen sieht sich bloß als einen, der „Befehle ausgeführt hat“. Für eine der Erschießungen mit 147 Toten will er gleich gar nicht zuständig gewesen sein, obwohl es dafür einen Orden gab. Anders liegt der Fall bei der jetzt in Hamburg zur Anklage gebrachten Ermordung von 59 Personen, die nach einem Anschlag auf ein deutsches Soldatenkino erschossen wurden. Fünf Deutsche waren am 15. Mai 1944 einer Partisanenbombe zum Opfer gefallen, darauf wurden vier Tage später die 59 Italiener, die in SD-Haft saßen, am Turchino-Pass bei Genua erschossen. Da war Engel nach eigenem Bekunden zwar „mitverantwortlich“ – nicht aber „mitschuldig“. Der SS-Mann mit der feinen Unterscheidungsgabe nämlich weiß nicht nur zu erklären, dass die deutschen Einheiten auf einen „feigen Anschlag italienischer Terroristen“ reagierten; er weiß auch, dass die 59 unter seinen Augen Hingerichteten „sowieso“ erschossen worden wären, „als „Terroristen, Partisanen oder ähnlich“.
Als SS-Mann oder ähnlich konnte Engel dagegen erst mal Jahrzehnte lang unbehelligt in Hamburg leben. Die Hamburger Justiz hatte 1969 aus unbekannten Gründen – die Akten sind verschwunden – ein Ermittlungsverfahren eingestellt, und auch die italienischen Staatsanwaltschaften verschleppten über Jahrzehnte Verfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher. Selbst der erst 1999 in Turin erfolgte Schuldspruch konnte Engel nichts anhaben; die deutsche Staatsbürgerschaft schützt ihn vor Auslieferung, zudem kannte auch in Italien niemand die Adresse des verurteilten Mörders, der seit 1970 seinen Ruhestand genoss. Die deutsche Öffentlichkeit wurde erst auf ihn aufmerksam, als ihn letztes Jahr ein Kamerateam der ARD-Sendung Kontraste aufspürte. Auch jetzt muss er nicht in Untersuchungshaft, sein Gesundheitszustand ist in den Augen der Staatsanwälte aber gut genug, um den Prozess durchzuziehen, der noch vor dem Sommer beginnen soll.
MICHAEL BRAUN
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