: Im Jammertal
aus Merthyr Tydfil RALF SOTSCHECK
Jeder zweite Laden ist ein Discount Store. Bei manchen sind ein paar Buchstaben heruntergefallen, aber die Einheimischen wissen, was gemeint ist. Selbst die etablierten Supermarktketten bieten fast nur Sonderangebote an. Auf dem Markt in der Fußgängerzone verkaufen die Händler Krimskrams für wenig Geld – Rucksäcke für umgerechnet 5,70 Euro, Regenschirme für 1,60. Dabei ist der Schlussverkauf längst vorbei.
In Merthyr Tydfil in Südwales ist immer Ramschverkauf. „Die Leute haben kein Geld“, sagt Elisha, deren Großeltern in den 50er-Jahren aus Griechenland eingewandert sind, weil es Arbeit in den Bergwerken gab. „Eine Boutique wäre hier nach einer Woche pleite, die Menschen können sich ja kaum das Notwendigste leisten.“ Elisha will weg aus Merthyr Tydfil, zwei Jahre will sie höchstens noch in dem kleinen Laden arbeiten, der mit Waschpulver und Seifenartikeln vollgestopft ist. „Dann bin ich 25“, sagt sie, „und wenn ich bis dahin den Absprung nicht geschafft habe, komme ich vielleicht nie mehr weg. Diese Stadt macht krank.“
Administrative Krankheiten
Merthyr Tydfil, eine Stadt mit 40.000 Einwohnern, hat den höchsten Krankenstand in Großbritannien, ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung bekommt Krankengeld oder Invalidenrente. Die Armut ist der wichtigste Faktor, der zu dem enormen Krankenstand beiträgt. Die Menschen haben nicht genug Geld für eine gesunde Ernährung. Und dann die Folgen der industriellen Vergangenheit und der Umweltverschmutzung: Vor allem Herzkrankheiten und Probleme mit den Atemwegen machen den Leuten zu schaffen. „Hinzu kommen die so genannten administrativen Krankheiten“, sagt Huw Lewis. „Die Arbeitsämter ermutigen ältere Arbeitslose, sich arbeitsunfähig schreiben zu lassen, weil sie mehr Geld bekommen, als wenn sie Sozialhilfe beziehen. Vermittelbar sind sie ohnehin nicht mehr.“
Der 37-jährige Lewis wurde 1999 für die Labour Party ins walisische Regionalparlament gewählt. Er hält Sprechstunde in seinem karg eingerichteten Büro am Rande der Innenstadt. Lewis trägt ein weißes Hemd und eine rote Krawatte, wie sich das für einen Politiker von Premierminister Tony Blairs Labour Party gehört. Eine Zeitlang war Lewis Bildungsminister der Regionalregierung von Wales, aber aus Protest gegen die Tiermassengräber in Merthyr, die im Zuge der Maul- und Klauenseuche mit mehr als 300.000 Tieren gefüllt werden sollten, trat er voriges Jahr zurück. „Junge Leute und Frauen finden am ehesten Arbeit“, sagt er, „meist in einem Call Center oder in kleineren Firmen. Aber wer über 50 ist und sein Leben im Bergwerk gearbeitet hat, findet keine Anstellung mehr.“
Das Wisconsin-Modell, benannt nach dem US-Staat, der keine Sozialhilfe ohne Gegenleistung auszahlt, ist zwar unter dem Schlagwort „New Deal“ auf Großbritannien übertragen worden, aber es wird vor allem auf junge Leute angewendet. „Für die ist es härter“, sagt Lewis, „wenn ihnen Arbeit oder ein Ausbildungsplatz zugewiesen wird, müssen sie ihn annehmen, sonst werden ihre Bezüge gestrichen.“
Wo aber sollen in Merthyr Tydfil die Jobs herkommen? Die Arbeitslosigkeit liegt bei 35 Prozent, ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung verfügt über keinerlei Ausbildung. 12,5 Prozent der bewohnten Häuser sind eigentlich unbewohnbar. Sieben Prozent aller Frauen werden schwanger, bevor sie 18 Jahre alt sind. Die Zahl der an Depression Erkrankten liegt um die Hälfte höher als der landesweite Durchschnitt.
Tiefpunkte hatte es auch früher gegeben. Im Zuge der weltweiten Rezession in den 30er-Jahren mussten viele Fabriken und Bergwerke schließen. „Das Tal der gebrochenen Herzen liegt nördlich des Kohleflözes“, schrieb der Reiseschriftsteller Henry Vollam Morton damals. „Die Bergwerkstäler von Wales erstrecken sich nördlich von Cardiff wie die Finger einer Hand. Wenn schlechte Zeiten kommen, erlahmt die Hand von den Fingerspitzen abwärts. Es sind die nördlichsten Städte, die das rauhe Klima zuerst spüren.“
Die Arbeitslosigkeit in Merthyr Tydfil stieg auf 60 Prozent. In einem Regierungsbericht schlug eine Kommission damals vor, die Stadt einfach zu schließen, die Einwohner umzusiedeln. Doch während des Zweiten Weltkrieges erholte sich die Gegend, die Allierten benötigten Waffen und Munition. Merthyr Tydfil expandierte – nach oben. Auf den Hügeln hoch über der Stadt entstanden zwei Wohnsiedlungen.
So schlecht die Lebensbedingungen im Tal von Merthyr Tydfil auch sind, auf den Hügeln sind sie noch schlechter. Die beiden Siedlungen Gurnos und Galon Uchaf sind die größten in Wales, 7.000 Menschen leben hier. Die Straßen sind mit Glasscherben übersäht. In Cherry Grove, einer Straße mit heruntergekommenen Reihenhäusern, ist Unkraut, das durch die Sprünge im Gehweg sprießt, das einzige Grün. „Sie nennen die Straße Heroin Grove“, sagt die 19-jährige Gabrielle. „Es war mal eine schöne Straße. Jetzt liegen die benutzten Spritzen herum. Heroin ist billiger als Alkohol.“
Immer mehr Heroinsüchtige
In den Tälern von Südwales ist die Zahl der Heroinabhängigen, manche erst 13 oder 14 Jahre alt, explosionsartig gestiegen, weit mehr als in jedem anderen Teil Großbritanniens. „Mit der Drogensucht ist auch die Kriminalität gestiegen“, sagt Gabrielle. „Aber das kümmert niemanden.“ Vom Hügel aus blickt man auf die Berge der Brecon Beacons, eines Naturschutzgebietes, das am nördlichen Stadtrand von Merthyr beginnt und im Sommer tausende Touristen anlockt, wenn nicht gerade die Maul- und Klauenseuche grassiert.
„Aber Merthyr Tydfil profitiert nicht vom Tourismus“, sagt Stephen Carr, Chefredakteur der Lokalzeitung Merthyr Express. „Die Stadt hat ein Imageproblem. Sie gilt als depressiv und heruntergekommen.“ Carr ist ein großer, schwergewichtiger Mann, der von seinem Schreibtisch in der hintersten Ecke des Großraumbüros die Produktion der Zeitung für den nächsten Tag überwacht. Als er vier war, wanderten seine Eltern von Swansea nach Australien aus. Mit 16 kam er zurück nach Wales, arbeitete bei verschiedenen Zeitungen und in einer Werbeagentur in England, bevor er 1999 den Merthyr Express übernahm.
Carr kennt sich mit Merthyr Tydfil inzwischen aus wie kein anderer. „Die Stadt war nicht immer so“, sagt er. „Im 17. Jahrhundert war sie das Zentrum des Puritanismus. 1798 wurde der Kanal zwischen Merthyr und Cardiff eröffnet – mit 40 Schleusen auf 35 Kilometern. In Merthyr Tydfil fuhr 1804 die erste Dampflokomotive der Welt. 1841 nahm die Taff-Vale-Eisenbahn ihren Verkehr auf. Damals war Merthyr die größte Stadt in Wales.“ Der Name der Stadt bedeutet „Märtyrerin Tydfil“, weil dort um 480 die Tochter des Prinzen von Brychaniog wegen ihres christlichen Glaubens von heidnischen Angelsachsen getötet und später heilig gesprochen wurde.
Die Gegend lebte über 100 Jahre von Stahl und Kohle. Es ist vermutlich der einzige Ort in Europa, wo Eisenerz, Kalkstein und Kohle zusammen vorkommen, ein idealer Standort für die Industrie. „In Merthyr hat die industrielle Revolution begonnen“, behauptet Carr.
Die Stadt hat den ersten sozialistischen Abgeordneten nach Westminster entsandt. „Keir Hardie, der Labour-Gründer aus Merthyr, war der erste Labour-Abgeordnete im Unterhaus“, sagt Lewis. „Nach dem Ersten Weltkrieg regierten abwechselnd die Liberalen und Labour, doch seit 1972 herrscht die Labour Party im Rathaus.“
Das alte Rathaus steht zum Verkauf. Der Stadtrat ist inzwischen in einem modernen Flachbau untergebracht. Die Pressesprecherin Sara van den Berg spricht nicht mit der Presse. Einmal habe sie es getan, sagt sie am Telefon, aber der Journalist habe nichts von den positiven Dingen geschrieben, die sich in Merthyr Tydfyl abspielen.
Das Positivste sei, dass der Abwärtstrend gestoppt werden konnte, meint Huw Lewis: „Aber aufwärts geht es noch lange nicht. In den 50er-Jahren hatten wir Vollbeschäftigung. Die Gewerkschaften erkämpften gute Löhne, so dass Merthyr in den 70er-Jahren eine wohlhabende Stadt war. Nicht reich, aber wohlhabend. Dann kam Margaret Thatcher. Innerhalb weniger Jahre hatte sie der Kohle- und Stahlindustrie den Garaus gemacht.“
Aristokraten unter den Arbeitern
Einige Kumpel gingen in andere Landesteile, wo es noch Bergwerke gab, bis auch die dichtmachten. Brian, ein kleiner, kräftiger Mann von Mitte 50 mit kurzen, rotblonden Haaren, hatte mit 16 im Big Pit bei Blaenafon östlich von Merthyr angefangen. „Die Arbeitsbedingungen waren unbeschreiblich“, sagt er. „Ich musste den ganzen Tag auf dem Bauch in einem 40 Zentimeter hohen Schacht liegen und mit der Spitzhacke die Kohle heraushauen. Die Sicherheitsvorkehrungen waren erbärmlich, es gab viele Unfälle.“
„Ich habe Glück gehabt“, sagt Brian, „ich bin nie ernsthaft verletzt worden, obwohl ich einige Male verschüttet war. Und Glück hatte ich auch, nachdem die Gruben geschlossen wurden.“ Brian hat eine Anstellung als Touristenführer bekommen, er fährt mit den Gruppen tief hinunter in den Big Pit, der in ein Museum umgewandelt wurde, in dem den Besuchern ein Eindruck der Arbeitsbedingungen unter Tage vermittelt wird. „So angenehm mein neuer Job auch ist“, sagt er, „ich bin Kumpel, und wir waren die Aristokraten unter den Arbeitern.“
Das hatte Henry Vollam Morton schon in den 30er-Jahren geschrieben: „Diese Bergwerkstäler wollen kein Mitleid und keine Almosen. Aber sie sind es wert, verstanden zu werden. Sie sind ausgesprochen freundlich, ihre Schönheit ist nicht die der Sonne oder des Mondes, sondern des Herzens.“
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