Streit auf dem Dach Europas

Der Protest gegen die geplante Freigabe des Montblanc-Tunnels für den Schwerlastverkehr formiert sich: Hier könnte sich die Zukunft der europäischen Transportpolitik prinzipiell entscheiden

von GERHARD FITZTHUM

Das Schaufenster eines Spielwarenladens im Jahre 2002: Wie ein Relikt aus alter Zeit steht ein ausgeklapptes Spielbuch zwischen Legoraumschiffen und Game-Boys. Es zeigt Viadukte und Eisenbahntunnel aus rotem Backstein in einer intakten Berglandschaft mit Alpweiden, Wäldern und Gletschern. Die Idylle hat einen Namen: „Monte Bianco“. Die Wirklichkeit am Montblanc-Tunnel sieht anders aus.

Von alpiner Romantik fehlt jede Spur. Statt der Schiene führt nur ein Asphaltstreifen ins Innere des Berges. 1965 für jährlich 450.000 Durchfahrten konzipiert, passierten zuletzt zwei Millionen Fahrzeuge den elf Kilometer langen Straßentunnel, mehr als 40 Prozent davon Lastwagen – größtenteils internationaler Transitverkehr.

Vor zwei Wochen, fast auf den Tag genau drei Jahre nach dem Tunnelbrand, ist die wichtigste Untertageverbindung zwischen Frankreich und Italien wieder geöffnet – für Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen. Den Mut, wie beim Gotthard-Tunnel auch den Schwerverkehr gleich wieder einzulassen, hatte man nicht. Zu Recht: Bei der Eröffnung protestierten 2.000 Menschen beiderseits des Tunnels, und am französischen Tunneleingang ging in der Nacht sogar eine Bombe hoch. In der dreijährigen Reparaturzeit hatte der Widerstand genügend Zeit, um sich zu formieren. Aus 60.000 Unterschriften gegen den Lastwagenverkehr nach einem halben Jahr sind inzwischen 260.000 geworden. Auch die Drohung des Bürgermeisters von Chamonix, mit 2.000 Gleichgesinnten die Zufahrt zu blockieren, steht noch im Raum.

Im Zentrum der Argumente der Tunnelgegner steht nicht allein die Verkehrssicherheit. In Courmayeur sind erste Bergwälder bereits abgestorben, das ewige Eis am Montblanc ist längst mit einer giftigen Rußschicht überzogen, und Chamonix dürfte bald wieder unter einer graugelben Smogglocke liegen. „Durch die Verwandlung unseres Lebensraums in einen Transitkorridor für den Gütertransport werden wir zu Geiseln internationaler Wirtschaftmächte“, sagt Eligio Milano. Er ist der Sprecher der Bürgerinitiative aus Courmayeur, die die Hälfte der Einwohner hinter sich weiß, nicht jedoch die Regierung des Aostatals. Die besitzt Anteile an der neuen Autobahn und möchte weiter am Transit verdienen.

Anders auf der französischen Seite: Die Kommunalpolitiker des oberen Arve-Tals haben allesamt die Petition der Bürgerinitiativen unterschrieben, die Bevölkerung steht ebenfalls dahinter. Und auch Feuerwehr, Gewerkschaften und Bergführer sind schon gegen die Lastwagen auf die Straße gegangen. Dieser geschlossene Widerstand macht den Politikern in Paris Sorge.

Unterstützung erhalten die lokalen Aktivisten von nationalen und internationalen Umweltschutzorganisationen. Die haben erkannt, dass der Montblanc zum Austragungsort der allesentscheidenden Schlacht um die zukünftige Transportpolitik werden könnte. Denn einerseits bleibt der Tunnel durch den zu geringen Querschnitt und die steilen Anfahrtsrampen ein Sicherheitsrisiko, und andererseits hat der Montblanc als Dach Europas allergrößten Symbolwert. Mehr als 140 Umweltverbände aus neun Ländern unterzeichneten ein Manifest, das die Sperrung des Tunnels für Lastwagen und die sofortige Abkehr von der herrschenden Transportpraxis fordert. Zum Schutz der ökologisch sensiblen Alpentäler und ihrer Bewohner müssten die alpenquerenden Handelsgüter in Zukunft ausnahmslos über die Schiene rollen.

Die Alpenschützer scheinen mit dieser Forderung offene Türen einzurennen. Frankreich und Italien haben sich im letzten Sommer auf den Bau eines Eisenbahnbasistunnels zwischen Turin und Lyon geeinigt. Doch frühestens 2012 dürfte die 21 Milliarden Mark teure Schnellverbindung fertig sein. Bis dahin wird sich der Güterverkehr auf der Straße noch einmal verdoppelt haben, es sei denn, es gäbe eine europaweite kilometerabhängige Schwerverkehrsabgabe. Solch unpopuläre Maßnahmen sind vom EU-Verkehrsministerrat nicht zu erwarten.

Doch nach der Unterzeichnung des Verkehrsprotokolls der Internationalen Alpenkonvention geben sich die Aktivisten nicht mit den versprochenen neuen Sicherheitsbestimmungen zufrieden. Diese sehen eine Einbahnregelung, eine Höchstgeschwindigkeit von 70 Stundenkilometern und einen Mindestabstand von siebzig Metern vor. „Es ist ein Dosierungssystem, das möglichst viele Camions durchlässt“, kritisiert Jan Gürke von der Alpeninitiative.

Um dem Widerstand die Spitze zu nehmen, will der französische Verkehrsminister die Öffnung für den Schwerverkehr in drei Phasen stattfinden lassen: zunächst für LKW bis 19 Tonnen, dann für den lokalen Transportverkehr in höheren Gewichtsklassen und – nach den französischen Parlamentswahlen – für die internationalen Großlaster. Letzteres will die Bevölkerung mit allen Mitteln verhindern.