: Der Kopf, so schwer
Eine Klage von großer Verlorenheit und von Schmerz: Im Theater am Halleschen Ufer zeigt Riki von Falken „Wach“
Irgendwann ist es soweit. Um die Erfahrung, zurückzubleiben, führt kein Weg mehr drum herum. Man kann versuchen, die Augen davor zu verschließen, aber jedes Ausweichen erhöht nur die Anstrengung, auf der anderen Seite anzukommen. Dorthin, wo das Leben ohne die, die gestorben sind, weitergehen soll.
Von einer solchen Passage handelt Riki von Falkens Tanzsolo „Wach“, das im Theater am Halleschen Ufer wieder aufgenommen wird. Das Abschiednehmen, das in der jüngsten Choreografie von Sasha Waltz „NoBody“ als Requiem für einen vielstimmigen Bewegungschor geübt wird, gerinnt in „Wach“, ein halbes Jahr zuvor uraufgeführt, zur solistischen Klage von großer Verlorenheit. Mit einem solchen Schmerz rechnet man nicht auf dem Theater, aller Beschwörung des Authentischen zum Trotz. Trauer, das merkt man erst hier, wird im Privaten versteckt; Formen, mit ihr umzugehen und sie in der Kommunikation auszuhalten, sind selten geworden.
„Wach“ beginnt verstörend: Die Tänzerin läuft immer wieder auf einen zu. Und stoppt. Mit fragendem Blick, dem man nichts entgegnen kann. Der Ausgangspunkt der Choreografie ist die Endgültigkeit des Todes; alle Linien scheinen unterbrochen. Lange nimmt uns Riki von Falken mit hinein in die Reduktion des Wahrnehmungsraums und die Verengung, die im Kopf und in den Gefühlen beginnt und sich fortsetzt in der Unmöglichkeit, aus sich heraus zu kommen.
Die Tänzerin bewegt sich zwar, aber wie im Inneren gefesselt, ohne Möglichkeit, durch die Hülle der eigenen Haut nach außen zu dringen. Die Füße schieben sich voran, immer nur um Zehenbreite. Der Kopf wird zu schwer, der bleiche Körper sackt unter ihm zusammen, er fällt in die Hände und zieht den Rücken krumm. Für Momente hilft nichts über die Erfahrung hinaus, letztendlich auf den eigenen Körper und die eigene Verletzbarkeit reduziert zu sein. Das könnte man fast vergleichen mit den Fotografien, die Boris Mikhailov von Obdachlosen und Kranken am Rande der russischen Städte gemacht hat, die nichts mehr haben als ihren Körper, den sie in seinen Bildern in seltsamen Inszenierungen zur Schau stellen. Denn auch in einer medizinisch hochgerüsteten Gesellschaft bleibt die Lebens-Kraft eine sehr endliche Ressource.
Der Weg aus dieser Verengung ins Offene führt in dem Tanzstück, das durch Musik von Rihm, Ligety und Glass unterstützt wird, durch expressive Formanleihen hindurch, die man in der klaren, am Raum orientierten Bewegungssprache von Riki von Falken nicht mehr erwartet hätte. In Momenten ihrer Choreografie „Wach“ glaubt man sich Bildern der Trauer gegenüber, wie sie in der skulpturalen Sprache von Kollwitz oder Barlach vorkommen. Aber vielleicht kommt es nicht darauf an, wo diese Formen herkommen, wenn sie nur den Raum bieten, zwischen Innen und Außen wieder eine Kommunikation herzustellen. Die ist am Ende wiedergefunden; aus der Wachheit der Überbeanspruchung und des Nichtschlafenkönnens ist wieder die nach einer Zeit der Ruhe geworden. Die Bewegungen beginnen wieder zu fließen.
KATRIN BETTINA MÜLLER
„Wach“, Theater am Halleschen Ufer, bis 14. April, jeweils um 20 Uhr
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