tellerrand: Schnitzel im Austria
Unter Livrierten
Während Hans Moser, das österreichische Äquivalent des kleinen Mannes Heinz Rühmann, beim Kellnern die Damen und Herren der gehobenen Tischgesellschaften kaum eines Blickes würdigte, verhält es sich im Restaurant Austria in der Bergmannstraße 30 eher umgekehrt: Herren mit Krawatten und Damen in Cocktailkleidern können sich eines echt österreichischen Bücklings sicher sein, während ein unfrisierter Gast in abgeschabter Lederjacke mehrmals den Zeigefinger heben muss, bis sich der Lakai an den Tisch bemüht. Das mag daran liegen, dass die deutschen Kellner trotz solcher Austriazismen wie „Was wünschen die Herrschaften“, „Darf’s noch ein Glaserl sein, gnäd’ge Frau“ und „Noch einen Wunsch, der Herr …“ dem Geheimnis des österreichischen Charmes noch nicht auf die Spur gekommen sind. Im Austria scheint durch all die alpenländische Fassade stets die preußische Natur.
„Zwei Schnitzel und ein Bier!“ bestellt der neue Kunde und ruft dem bereits davonwieselnden Kellner in der schwarzweißen Uniform noch hinterher: „Ein großes bitte.“ Zwar nickt der Hinterkopf des Livrierten, doch zehn Minuten später steht ein kleines Bier vor dem durstigen Gast. „Ich hatte eigentlich ein großes bestellt!“, sagt geduldig der Kunde – „Das hätten Sie auch sagen müssen!“, erwidert ungeduldig der Oberkellner und lässt Gast und Bier stehen. Moser hätte das Seidl, wenn auch schweigend, zurück aufs Tablett gestellt.
Prächtig aber schauen dann die Wiener Schnitzel aus, die gewaltigen, goldgelben Fladen ragen weit über den Tellerrand hinaus, und die Knödel am Nachbartisch haben Ausmaße, die selbst gestandene Tiroler Holzfäller überraschen würden. Nur das Gulasch nebenan scheint von zähen Sehnensträngen durchzogen, denn plötzlich saust ein von Soße übergossener Rindfleischquader am Schnitzelkauer vorüber. Dies alles nimmt der Gast mit dem kleinen Seidl und den großen Schnitzeln zufrieden kauend zur Kenntnis. Erst, als hinter ihm am Tisch lautstark über Investitionen in Schwindel erregenden Höhen erzählt wird und der österreichische Kellner angesichts des hohen Trinkgeldes Glubschaugen bekommt, bleibt ihm das zarte Fleisch doch noch im Halse stecken. Der Kellner buckelt: „Ein Schnapserl auf Kosten des Hauses?“ Der Hintertisch kontert akzentfrei: „Einen Marillenschnaps bitte!“ – „Eine Marille, selbstverständlich der Herr …“
Als der Kellner danach wieder am Tisch des schlecht frisierten Herrn mit seinem halb verzehrten Riesenschnitzel vorüberkommt, ruft dieser: „Die Rechnung bitte! Und eine kleine!“ – Der Kellner verzieht keine Miene. Nicht, weil er einen Charakter hätte wie Hans Moser, sondern weil er so humorlos ist wie Deutsche in österreichischen Heimatfilmen.
HANS W. KORFMANN
Austria, Bergmannstaße 30,täglich ab 18 Uhr
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