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Frankfurter Szenen. Fotos: Karsten Thielker

Ich hatte Geld, man hätte mir viel erzählen können. Ich konnte alles bezahlen.Dort begann sein Zug durch zehn Lokale. Wirte konnten Uhren nach ihm stellen.

von JAMAL TUSCHICK

Nach Frankfurt kam ich mit allen Vorbehalten eines Nordhessen. Ich suchte Plätze auf, die dazu taugten, meinen Widerwillen zu bestätigen. Dort entdeckte ich eine Freiheit, die es in Kassel für mich nicht gab. Trotzdem wollte ich skeptisch erscheinen. Ich trug meine Skepsis zur Schau wie eine Brille mit Fensterglas.

Was diente mir als Anhalt? Ein paar Mal verirrte sich meine Wahrnehmung. Im TAT-Café hörte ich Leuten zu, die ich für angehende Schauspieler hielt. Dann stellte sich heraus, dass sie Auszubildende bei der Post waren. Im Operncafé wollte ich zwei Whiskey mit einem Tausendmarkschein bezahlen. Der Kellner konnte nicht herausgeben. Ich bot an, im Möwenpick den großen Schein zu wechseln, um mit einem kleineren meine Zeche zu begleichen. Der Kellner sagte: „Das glaubst du doch selber nicht.“ Ich fand darauf keinen Grund mehr, ihn von meiner Redlichkeit zu überzeugen. Für wen oder was sollte er als Zeuge in Betracht kommen?

Löwenhaft war die Erscheinung eines Mannes, der in einem Lokal an der Schillerstraße ein Frühstück mit Champagner auf dem Tisch hatte. Mir kam das so vor, als wollte er die Fernsehwelt nachspielen. (Ebenso gut könnte die Fernsehwelt an ihm Maß genommen haben.) Ich musste mich äußern, das wurde quittiert.

Eine Nackttänzerin plünderte mich ohne Begeisterung. Sie bewies mir ein paar Aufmerksamkeiten, womöglich mit Sympathie. Sie hatte von Männern gehört, die ihre Autos in Freudenhäusern versetzt hatten. Man hatte ihr Heiratsanträge gemacht. Sie war dankbar, wenn ein Mann auf ihre Käuflichkeit nicht anspielte, aber noch der Rüdeste machte ihr wenig Eindruck. In einem Separee hielt sie Gesten der Empfindsamkeit für angebracht, während ich mich auf die Farbe des Badeanzugs konzentrierte, der ihre Berufsbekleidung war. Ich hatte Geld, man hätte mir viel erzählen können. Ich konnte alles bezahlen.

Ich sah die Tänzerin ein paar ausführliche Bewegungen machen.Vielleicht ging sie zu weit. Sie zeigte Fotos. War ihr Freund darauf zu sehen, verbarg sie ihn unter der Hand. Er stellte mich an einem grauen Morgen. Ich wich aus: Wo er war, hatte ich nichts zu bestellen. Ich reagierte schon allergisch auf diese Seite des Nachtgeschäfts.

Die Stadt sprach mich an; mir hatten Steine was zu sagen. Das musste verborgen werden. Mir war recht, wenn man mich für einen Taxifahrer hielt oder vermutete, dass ich einem Handwerk nachging. Wie nach einem Arbeitstag ließ ich mich umständlich auf Hockern nieder. Offensichtlich freute ich mich über das erste Bier am Feierabend; als hätte ich nicht schon mittags wenigstens die Gelegenheit gehabt, mit Rentnern zu trinken. Ich begann, Frankfurt zu schmeicheln. Wie Annoncen setzte ich meine Liebeserklärungen in die Rundschau.

Wieder fiel mir alles zu. Meine erste Adresse lag im Westend. Von mir wurde nur ein Anschein von Miete verlangt. Die Wohnung teilte ich mit ihrem Eigentümer, einem Mann in weit vorgezogenem Ruhestand. Er hatte in der Werbung zugeschlagen. Von seiner Jaguarphase war eine Radkappe übrig geblieben. Sie dekorierte den Flur. Eine Frau, die er zur Haushälterin seines Lebens gemacht hatte, war ihm abhanden gekommen. Manchmal ließ er sich vor mir meine Formulierungen in Artikeln auf der Zunge zergehen. Ich hatte so viel Wertschätzung des geschriebenen Worts noch nicht erlebt. Die Wohnung lag im einzigen Haus, das der Westendsanierung entgangen war. Im Erdgeschoss lebte Silvia Bovenschen, die mir später ihr Bett überließ. Ich zerschlug es viele Jahre später auf einem Bürgersteig.

Mein Wohltäter hatte eine Rolle im Häuserkampf gespielt. Er war mit vielen Leuten näher bekannt, die aus der Revolte bürgerliche Gewinne mitgenommen hatten, so wie Fischer, Trebes, Beltz, Klinke, Scheffler, die Gebrüder Wolff, um einige zu nennen. Ich habe ihn dabei ertappt, wie er sich in einer alten Lederjacke zu Musik vor dem Spiegel drehte. Auf der Straße traf man ihn so nicht. Er war ein Mann des Frühstücks, ein Genussbeschwörer. Jeden Tag verfügte er sich im Anzug, mit Krawatte und einer feinen Aktenmappe, zu Mutter Ernst. Dort begann sein Zug durch zehn Lokale. Die klapperte er zuverlässig ab. Seine Wirte konnten ihre Uhren nach ihm stellen. Ich kam oft nach ihm heim, um ihn mit blankem Arsch auf einem Möbel zu finden, die Krawatte immer noch am Hals, die Hosen aber an den Kniekehlen … beim Wichsen gescheitert, eingeschlafen mit einer halben Erektion … was weiß ich. Überall Licht, die Küche verwüstet.

Ich glaube, dass mein Wohltäter mehr Ansprache erwartete, als mir ihm gegenüber zur Verfügung stand. Vielleicht hatte er mir anfangs sogar zugetraut, seinen Niedergang aufzuhalten.

Er widerte mich an … während seine Orte zu meinen Orten wurden. Auch seine Art sich zu verstellen, wurde für mich zu einer Möglichkeit. Wenn mir danach war, verkleidete ich mich jeden Tag anders. Ich dachte mir das Ankunftsspiel aus. Es begann am Gleis neun auf dem Hauptbahnhof. In der Menge verwandelte ich mich in einen Reisenden. Ich sah mich um wie zur Orientierung. Wie ein Wartender schlug ich Magazine auf, eine Tasche zwischen den Beinen.

Ich trank einen Kaffee so, als hätte ich dafür gerade noch genug Zeit.

Ich warf Blicke über den Vorplatz, wie um ein Bild von fremden Verhältnissen einzufangen. Ich verschattete mein Interesse am Betrieb der Drogenkranken.

Ich gewöhnte mir die Frankfurter Mundart an, um zuzeiten den Eingesessenen zu mimen. Es gab ihn, maulfaul und angeschlagen, vielleicht von Nachtarbeit, und offensichtlich guter Dinge; so lebendig wie mancher nur zwischen dem dritten und dem siebten Glas. Er kochte zum Vergnügen. Über Nahrungsmittel konnte er sich auslassen. Er nahm weite Wege in Kauf für ein Kraut oder einen Fisch.

Von Beruf konnte er allerhand sein; selbst das, was schließlich wahr wurde, war vorher nur eine Behauptung … so wie die Krawatten und der Arbeiteraufzug etwas behaupteten, dem er abwechselnd näher kam. Jede Variante schuf eine Umgebung. Der Bodenständige hatte einen Marktfreund, den er samstags auf der Konstabler Wache traf: für den Marktfreund die fünfte Station auf einer sorgfältig befestigten Route. Sie verfehlte die Piste der Hochgestochenen, die von Ambitionen angehoben wurden, über die der Markt lachte.

Ich merkte mir einen Text aus lauter Anspielungen auf vertiefte Kenntnisse. Der Marktfreund nannte ein Lokal nicht bei dem Namen, unter dem es im Branchenverzeichnis geführt wurde. Vielmehr rief er den Namen des Wirts auf oder der Familie, die das Haus lang geführt hatte. Was wichtig war, musste hundert Jahre auf dem Buckel haben; … ein monströses Maß für eine Stadt, die sich so schnell verändert, dass man in Jahresfrist zum Zeugen gewesener Verhältnisse werden kann.

Als ungelernter Koch half der Marktfreund in einer Gaststätte, die auf den Grundmauern einer Patrizierburg errichtet worden war. In seinem Geschwätz blähten sich zwei Arbeitstage zu einem Pensum, das die Woche ausfüllte. Samstags war er stundenlang in Eile. Seine Frau wartete so lang auf ihn, bis sie schließlich nicht ein Minute länger Zeit für ihn hatte.

Er kannte die Namen aller Brücken, die in Frankfurt über den Main führen. Die ursprüngliche, im Krieg versehrte Topografie lag wie eine Folie unter seinen Betrachtungen. Geläufig waren ihm die Bedeutungen alter Wörter, wie Steuber und Schirn.

Ich ließ mich belehren, so dass später der Bodenständige einer Zugezogenen voller Reserve eine Lebensart angeblich in ihren Feinheiten erklären konnte.

Durch mich nahm die Frankfurter Folklore einen Weg ins kostümierte Nichts. Du bist meinem aufgesetzten Hessisch auf den Leim gegangen, hereingefallen auf das Schoppengeschwätz, die angereicherten Schenkimitationen. Die Geräusche der Zugehörigkeit griffen deinen Widerstand an. Die Freundlichkeit der Wirte, denen ich mich angenehm gemacht hatte, verfing bei dir. Du fingst an, dich zu fühlen wie ausgelassen unter lauter Beschenkten.

In deiner Gegenwart verstand ich meine Methoden. Raumgewinn hatte sich aus der Entdeckung von Berührungspunkten ergeben. Zwischen dem neuen Frankfurter Establishment, zu dem mein Wohltäter gehörte, und der letzten Bastion hessischer Volkstümlichkeit, die von meinem Marktfreund gehalten wurde, bestand eine Verbindung: ein Grat, auf dem man sich treffen konnte. So wie der Wohlstand aus der Werbung zum Apfelwein ging, stolperten die anderen Narren mit im Verkehr zwischen Größenwahn und Weinstube. In der gegenseitigen Anerkennung verbarg sich ein Prinzip; ihm zu entsprechen, war profitabel. Das war mir am Beispiel meiner eigenen Existenz bewiesen worden. Ich brachte es dir bei, ohne den Preis zu nennen. Was man mitgebracht hat, muss geopfert werden.

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