: Die Parade der Bastarde
Das interkulturelle Brüssel ist äußerlich durch zwei Extreme geprägt: Arbeitsmigranten und Edeleurokraten. Dass die Kulturen zusammenzuleben verstehen, beweist die Zinneke-Parade, wo sich der Moscheeverein ebenso heimisch fühlen könnte wie die Love Parade. Denn „Zinneke“ heißt „Bastard“
von DANIELA WEINGÄRTNER
Es war der erste warme Brüsseler Sonntag in diesem Jahr. Auf der mit Kopfstein gepflasterten breiten Zufahrt zum Justizpalast übten etwa fünfzig Kinder und Jugendliche zum Takt von Trommelwirbeln stampfend eine Choreografie: drei Schritte vor, fünf zur Seite, einmal im Kreis. Es hätte die belgische Variante der Funkenmariechen sein können. Aber Karneval lag schon zwei Wochen zurück. Außerdem hatten die meisten Mädchen ihre Haare unter Kopftüchern verborgen, was bei Funkenmariechen eher unüblich ist. Tatsächlich übten hier Mitglieder einer der unzähligen Brüsseler Stadtteil-Kulturgruppen für die Zinneke-Parade im kommenden Mai.
Die Marollen am Fuße des Justizpalasts waren früher ein berüchtigtes Viertel, wo Tagelöhner, Zuhälter und Kleinkriminelle lebten. Heute kommen Touristen gern her, um in den Trödelläden und an der Place Jeu de Balle auf dem berühmten Flohmarkt zu stöbern. Der ist inzwischen fest in marokkanischer Hand. Denn in den Mietskasernen wohnen noch immer die Ärmsten der Stadt – und das sind heute meist Nordafrikaner und Südamerikaner.
Vor zwei Jahren ist die alte Zinneke-Tradition wiederbelebt worden. Damals war Brüssel Kulturhauptstadt, und die Organisatoren stellten mehr als 300 Veranstaltungen auf die Beine, die eines gemeinsam hatten: Sie kosteten wenig, spielten sich abseits vom touristischen Eventbetrieb ab und wurden von den Stadtteilinitiativen der 19 Brüsseler Gemeinden getragen.
Kultur von unten
Deutschland und Belgien teilen sich in der Statistik mit 8,9 Prozent Ausländeranteil einen vierten Platz hinter Luxemburg (32 Prozent), der Schweiz (19 Prozent) und Griechenland (10 Prozent). Auch in den Metropolen der beiden Nachbarländer hat Multikulti statistisch betrachtet den gleichen Stellenwert: Jeder Dritte in Brüssel und Berlin hat einen ausländischen Pass, in manchen Stadtvierteln sind die Ausländer mit bis zu 70 Prozent Anteil an der Wohnbevölkerung fast unter sich. Trotz dieser zahlenmäßig gleichen Ausgangslage könnte die Situation unterschiedlicher kaum sein. Während in Berlin, von einigen Botschaftsmitarbeitern abgesehen, ein ausländischer Pass stets niedrigen sozialen Status bedeutet, gibt es in Brüssel zwei Extreme: die Arbeitsmigranten aus Afrika und Südamerika, die oft in einer legalen Grauzone leben, und die Edeleurokraten, die Brüssel als Karrierestation betrachten und die Lebenshaltungskosten in die Höhe treiben.
Auf den ersten Blick fällt in Brüssel vor allem eines auf: das bunte Völkergemisch auf den Straßen. Sicher erklärt es sich zum Teil daraus, dass es viele Schwarze der ehemaligen belgischen Kolonie Kongo aus dieser vom Bürgerkrieg geplagten Region nach Brüssel zieht. Sie fallen mehr ins Auge als die Türken in Kreuzberg und die Polen in Mitte. Das aber ist nicht der einzige Grund. Migranten in Brüssel versuchen nicht, wie oftmals in Deutschland, sich möglichst unsichtbar zu machen. Sie beanspruchen selbstbewusst ihren Teil des öffentlichen Raums – und das Gastland gesteht ihnen diesen Raum auch zu. Das Projekt Zinneke-Parade auf Berliner Verhältnisse zu übertragen hieße die Love Parade gemeinsam mit den Moscheevereinen der Stadt zu organisieren. Was in der deutschen Hauptstadt undenkbar wäre, hat in Brüssel 2000 funktioniert. Die Zinneke-Parade am 27. Mai mit 300.000 Zuschauern war sicher der Höhepunkt der von den Veranstaltern geplanten „Kultur von unten“.
Die Ursprünge dieses bunten Straßenumzugs erzählen viel über Brüssels kuriose kulturgeschichtliche Ursprünge. Die Parade in ihrer heutigen Form verrät einiges über Gegenwart und Zukunft der Stadt. Das Wort „Zinneke“ stammt aus dem Brüsseler Flämisch und bedeutet „Kleine Senne“. Am Flüsschen Senne, so heißt es, tranken einst die Straßenköter – und so wurde „Zinneke“ zum Synonym für Köter oder, allgemeiner, „Bastard“. Die Parade der Bastarde, jahrzehntelang in Vergessenheit geraten, mausert sich nun zur Visitenkarte kulturellen Stadtteillebens und zum Geheimtipp für Brüssel-Besucher: Afrikanische Masken, Sambagruppen, dazwischen flämische Trommler und wallonisches Straßentheater. Wer auf die kulturelle Vielfalt im eigenen Ländchen so viel Wert legt, scheint auch für die kulturelle Eigenart der Einwanderer ein großes Herz zu haben.
Ein Teil dieser kulturellen Identität ist inzwischen mit dem Gastland verbunden. Der marokkanische Künstler Rachid Barghouti bereitet für die Zinneke-Parade im kommenden Mai eine Inszenierung vor, die an den maghrebinischen Wanderzirkus vom Brüsseler Südbahnhof aus erinnern soll. In vier Stadtteilwerkstätten werden die überladenen Überlandbusse nachgebaut, Percussion und Tanz einstudiert, Kostüme genäht. Noch heute kann man rund um den Südbahnhof zu Beginn der Ferientage die bärtigen Männer und verschleierten Frauen mit ihren verschnürten Koffern und großen Paketen sich sammeln sehen. Doch im Zeitalter der Billigflüge wird die maghrebinische Karavane per Überlandbus bald der Geschichte angehören. Leben und leben lassen – das ist die Lebenshaltung der meisten Belgier, die sich auch die Brüsseler Polizei, gemischt mit einem Schuss Resignation, zu Eigen macht.
Die Schattenseiten
Natürlich hat diese Gelassenheit auch ihre Schattenseiten: 60.000 illegal in Belgien lebende Migranten haben im Herbst 1999 den Zusagen der Regierung vertraut und einen Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung gestellt. Nur ein Bruchteil der Anträge ist bislang bearbeitet worden; die Hoffnungen und Ängste der Menschen versickern in einer schludrigen Bürokratie. Jugendbanden machen schon tagsüber die Metrostationen und Stadtparks unsicher, weil die Polizei lieber zweisprachig ihre Kriminalstatistik am warmen Schreibtisch führt, als auf Straßen und Plätzen präsent zu sein. Synagogenbesucher wurden in den vergangenen Monaten mehrfach von arabischen Jugendlichen angegriffen, beleidigt und bespuckt, der Oberrabbiner von Brüssel wurde an einer Metrostation verprügelt.
Die Stadtverwaltung ignoriert auch diese bedrohlichen Entwicklungen. Denn wer hart durchgreifen will, findet sich politisch in unappetitlicher Gesellschaft wieder. In seinem Gemeindeblättchen prangert der Brüsseler Stadtrat und Regionalverordnete Erik Arckens Missstände an, die vielen Bürgern auf den Nägeln brennen: die soziale Verwahrlosung marokkanischer Jugendlicher, eine verunsicherte Polizei, die von ihren Vorgesetzten nicht unterstützt wird, die arrogante Anspruchshaltung jener Migranten, die mit der liberalen westlichen Kultur nicht zurechtkommen.
Hinter vorgehaltener Hand teilen viele Brüsseler diese Kritik, wählen würden sie Arckens aber auf keinen Fall: Er ist Mitglied im rechtsradikalen Vlaams Blok. Der flämische Blok und seine wallonische Spielart Front National hatte bei den Gemeinderatswahlen 1994 in Brüssel zum ersten Mal breitere Unterstützung gefunden und sechs Abgeordnete in die Gemeindeversammlung schicken können. Im Oktober 2000 hatten die Brüsseler von diesem Experiment genug und setzten stattdessen mehr als je zuvor auf die Grünen. Der Vlaams Blok dagegen feierte in Flandern Triumphe – in der Hafenstadt Antwerpen stimmte jeder dritte Bürger für ihn. Auch in den ländlichen flämischen Gemeinden war der Anteil der „Ausländer raus“-Wähler hoch, obwohl dort der Ausländeranteil viel niedriger ist als in Brüssel. In diesem Phänomen zumindest ähneln sich die ansonsten grundverschiedenen Nachbarn. Auch in Deutschland ist die Ausländerfeindlichkeit in jenen Regionen besonders hoch, wo kaum Ausländer leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen