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Musik ohne Würde

Bach und Beethoven vertreiben Obdachlose und Junkies vom Hauptbahnhof. Warum bloß?  ■ Von Sandra Wilsdorf

Die Sicherheits- und Saubermänner vom Hauptbahnhof haben Beethoven, Bach und Mozart zu ihren Assistenten gemacht. Seit Monaten dudeln den ganzen Tag erbarmungslos laut „Best of Classics“ aus den Lautsprechern über Bahnhofsvorplätze und durch die langen Gänge zwischen U1, U2 und U3 – überall dort, wo früher mal Junkies und Obdachlose ihre Tage verbracht haben. Das tun sie jetzt nicht mehr. Denn offenbar halten sie die Potpourris klassischer Musik nicht lange aus.

Wolfhagen Sobirey, Präsident des Landesmusikrates, zürnt: „Hier wird Kunst missbraucht. Hier wird unserer Musik die Würde genommen.“ Als er neulich über den Hauptbahnhof ging, „lief ein Walzer von Strauss in einer Lautstärke, das war nicht auszuhalten“. Ein Junkie erklärte ihm: „Das machen die extra so laut, wir sollen hier alle weg.“ Sobirey ist darüber entsetzt, dass „unser kostbares kulturelles Erbe zur Vertreibung von Menschen benutzt wird“ und fragt sich, ob einigen Verantwortlichen die kulturellen Wurzeln abhanden gekommen seien oder sich hier zeige, wie weit sich unsere Gesellschaft von ihrer Hochkultur entfernt habe. Drogenabhängige und Obdachlose bräuchten nicht in erster Linie Musik, sondern Sozialpolitik, Therapieplätze und Eingliederungsmaßnahmen.

Doch die Verantwortlichen geben sich arglos. Zwar bestreitet niemand, dass Junkies und Obdachlose die bespielten Plätze meiden, doch das sei höchstens eine Nebenwirkung. Hochbahn und Deutsche Bahn haben doch für ihre Kunden nur das Beste im Sinne: „Es ist schon viele Jahre her, da haben wir überlegt, wie wir die langen kahlen Gänge attraktiver machen könnten“, erzählt Hochbahn-Sprecher Falko Niemeyer.

Und es war einer der ihren, der die Idee hatte, mit Musik den Fahrgästen ein bisschen Freude zu schenken bei ihren unterirdischen Wanderungen. „Damit die Leute das angenehme Gefühl haben, hier kann man sich ein bisschen länger aufhalten und sich wohlfühlen“, sagt Niemeyer. Doch bei den wohl Einzigen, die sich tatsächlich länger in den Gängen zur U2 aufhalten wollten, ist die Botschaft irgendwie nicht angekommen. Die meiden jetzt Tunnel und beschallte Vorplätze.

Auch nicht schlimm: „Das ist kein Effekt, gegen den wir etwas haben“, sagt Niemeyer. „Aber er ist wissenschaftlich gar nicht bewiesen“, betont Kollege Egbert Meyer-Lovis, Sprecher der Deutschen Bahn. „Wir hatten viele Beschwerden von Reisenden, die sich unwohl gefühlt haben auf dem Hauptbahnhof. Da haben wir überlegt, wie können wir ihn angenehmer machen.“ Na, und da hätte man eben Anfang des Jahres das Konzept der Hochbahn übernommen.

Seitdem dudelt es auch auf den überdachten Bahnhofsvorplätzen. Allerdings nur an der Seite zur Kirchenallee – dort, wo früher viele Leute ohne Ziel sich trafen. Und warum gibt es die Weichspülung dann nicht in der konsumorientierten Wandelhalle? „Wegen der Durchsagen“, sagt Meyer-Lovis.

Ein Mitarbeiter der U-Bahnwache hat sich seinen eigenen Reim gemacht: „Das ist doch ein Modell aus England, da haben die wohl zuerst festgestellt, dass Junkies klassische Musik nicht aushalten.“ Er glaube zwar nicht daran, „aber vielleicht beruhigt die Musik sie“.

Mozart und Bach schaffen nicht alle. Noch immer gibt es einige, die auf dem Bahnhofsvorplatz die Tage tot zu schlagen. „Die Musik nervt total“, sagt einer. Ein anderer hingegen findet die Musik „ganz schön, wenn sie nicht so laut wäre“.

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