Holprig stoßend wie das Leben

Zeitgenössisches aus Lettland: Literatur und Einblicke in die Musikszene des baltischen Staats  ■ Von Petra Schellen

„Der Westen muss stärker nach Osten blicken, das wird sehr vernachlässigt“, sagt Klaus Peter Nebel, Gründungsmitglied des Neuen Klubs, eines seit 2001 bestehenden Zusammenschlusses Hamburger Literaten, Musiker und Publizisten. „Riga so nah“ heißt daher die für heute geplante Veranstaltung des Klubs, der den Ost-West-Kulturaustausch fördern will und im Januar eine Lesung mit Texten „verbrannter Dichter“ veranstaltete.

Zeitgenössische Musik und Lyrik aus Lettland wird heute im Altonaer Theater vorgestellt – in einer genreübergreifenden Veranstaltung, an deren Gestaltung sich auch Generalmusikdirektor Ingo Metzmacher als Pianist beteiligt. Doch die wirklichen Stars des Abends sind zwei Künstlerinnen, die hier selten zu erleben sind: Aus ihrer Lyrik lesen wird die 1956 geborene Amanda Aizpuriete, die zu den wichtigsten zeitgenössischen lettischen AutorInnen zählt. Neben der Prosa-Autorin Gundega Repse ist sie eine der wenigen lettischen SchrifstellerInnen, deren Werke ins Deutsche übersetzt sind: Schon drei Gedichtbände Aizpurietes sind bei Rowohlt erschienen, der letzte – Babylonischer Kiez – kam 2000 heraus.

Privates und Öffentliches, die Liebe und die Unberechenbarkeit des Lebens, aber auch die Fremdheit des Einzelnen in der Welt sind ihre Themen. Dabei formuliert sie zwar ihren Zweifel an der Macht von Sprache – ihre Verse bezeichnet sie als „holprig stoßend wie das Leben“ – aber sie tut das ohne Koketterie. Auch wenn sie sagt, sie wisse nie, ob sie je wieder schreiben werde, meint sie es ernst. Und über ihren Beruf sagt sie: „Ich bin Hausfrau mit vier Kindern.“ Die allerdings in Riga und Moskau Philologie und Philosophie studierte, später Kafka, Bachmann, Achmatowa und Mandelstam sowie englische, litauische und ukrainische Literatur übersetzte. Nach der politischen Wende lebte sie in den 90ern jahrelang am Existenzminimum. Inzwischen verschaffen ihr internationale Preise und Stipendien finanzielle Erleichterung.

Ratlos haben Kritiker sie mit Else Lasker-Schüler verglichen; dabei passt Amanda Aizpuriete in kein Raster. Denn sie ist nicht explizit politisch, ideologisch nicht vereinnahmbar und kultiviert kein Selbstmitleid. Lakonisch schreibt sie bloß von einer mit Schlangestehen verbrachten Jugend und fragt sich, wie sie einen Kontinent bewohnen soll, auf dem „am Wegesrand der Krieg schläft“.

Selbststilisierung ist auch der zweiten für diesen Abend geladenen Künstlerin fremd: Die 1939 geborene Komponistin Maija Einfelde wird im Gespräch mit Andra Darzins, Solobratschistin im hiesigen Philharmonischen Staatsorchester, über die lettische Musikszene sprechen. Einfelde zählt neben Peteris Vasks und Imants Zemzars, von denen heute gleichfalls Werke gespielt werden, zu den wichtigsten lettischen Komponis-tInnen der mittleren Generation. Ursprünglich auf Kammermusik spezialisiert, hat sie sich in den letzten Jahren – ermutigt auch durch den ersten Preis des 1998er New Yorker internationalen Komposi-tionswettbewerbs – stärker der Chorliteratur zugewandt.

Kategorien wie „progressiv“ und „antiquiert“ lehnt sie ab und räumt ein, dass die jüngeren KollegInnen, die sich international ausbilden können, „auch musikalisch anders sozialisiert sind als ich“. Das Gedankengut Schostakowitsch' und Dostojewskis habe sie beeinflusst, sagt sie. Und fügt hinzu, dass lettische Kunstmusik immer auch die Dainas – teils aus dem 12. Jahrhundert stammende gesungene Vierzeiler – rezipiert hat. „Subtil scheint dies auch in aktuellen Kompositionen immer wieder durch“, ergänzt Andra Darzins. „Für Außenstehende ist dies kaum wahrnehmbar.“

Sehr präsent wird im Altonaer Theater allerdings – neben der Klavier-, Violin- und Klarinettenmusik – die Lyrik Amanda Aizpurietes sein: Interlinearübersetzungen ihrer Gedichte hat sie schon immer selbst gefertigt, und auch an diesem Abend wird sie lettisch und deutsch lesen. Intensiv, konzentriert, fordernd.

heute, 20 Uhr, Altonaer Theater