: Kinder, am Kartentisch verspielt
Ein kleines Rotkreuzheim ist eine der wenigen Anlaufstellen für Straßenkinder in Moskau
MOSKAU taz ■ „Wenn ein Kind zu uns kommt, dann nicht, weil es ihm zu gut geht“, sagt Jeljena Wladimirowna. Die aufgeweckte Assistentin um die dreißig mit dunkel blitzenden Augen war trotz Abwesenheit ihrer Chefin sofort bereit gewesen, ihr Kinderheim vorzuführen: „Wenn Sie wollen, gleich heute!“ An der Tür hinter dem Supermarkt „ABC des Geschmacks“ prangt ein Rotes Kreuz, geführt wird das Haus von der niederländischen Sektion dieser Organisation. Seit im Jahre 1999 private Kinderheime verboten wurden, war dies bis zum Februar dieses Jahres die einzige Anlaufstation in Moskau, welche ohne viel Federlesens streunende und misshandelte Kinder aufnahm. Allerdings nicht mehr als 15 und nur die unter zwölf Jahren.
„Die staatlichen Heime forderten quasi einen Gesundheitspass und einen Haufen von Dokumenten, Dinge, die man meist nur innerhalb eines halben Jahres für so ein Kind beschaffen kann“, erklärt Jeljena Wladimirowna. Die Ausstattung der Räume ist bescheiden, aber comme il faut: die Bettchen im Schlafsaal, der große Esstisch im Spielsaal, sauber blitzende Waschbecken. Heimelig wird das Ganze durch Plüschtiere, bunte Bilder und ein Klavier. Eine Musikpädagogin und eine Psychologin kommen wöchentlich zweimal, außerdem arbeiten hier eine Krankenschwester, eine Kinderschwester, eine Köchin und zwei Erzieherinnen. Der Etat ist minimal. Dank der Initiative eines Deputierten konnten noch letztes Jahr täglich 28 Rubel (etwas über 1 Euro) pro Kind für Lebensmittel ausgegeben werden. Doch jetzt hat sich der Mann andere Wohltätigkeitsziele gesteckt, und die Summe ist auf ein Drittel gesunken. „Trotzdem bringen wir ernährungsphysiologisch ausgewogene Mahlzeiten zustande“, versichert die Assistentin gelassen: „Wir arbeiten aus reinem Enthusiasmus.“
Die meisten Kinder von den Bahnhöfen haben Syphilis, wenn sie im Heim ankommen, dazu alle möglichen anderen Krankheiten und Parasiten. Deshalb gibt es zwei Quarantänezimmer mit je vier Betten. In einem davon betätigen sich gerade vier Knirpse im Vorschulalter mit Buntstiften. Alle haben sie leichte Temperatur; die Grippe grassiert. Mit rotem Gesicht sitzt die igelköpfige vierjährige Wera in ihrem Bettchen und kritzelt etwas. Ihre Mutter schloss eines Tages einfach die Wohnung ab, in der Wera und ihre kleine Schwester schliefen, und fuhr ins Stadtzenrum – für immer, wie sich zeigte. Nachbarn fanden die beiden nach einigen Tagen halb verhungert. Weras Stirn verunziert eine gewaltige Narbe. „Viele Kinder kommen mit Spuren von Misshandlungen her“, erzählt Jeljena Wladimirowna, „andere wurden von Verwandten sexuell missbraucht oder verkuppelt. Bei uns wohnten mal zwei Brüder, die hatte ihr Vater am Kartentisch verspielt …“
Von den hier Herumkrabbelnden ist der rothaarige, verschmitzte Serjoscha der Kontaktfreudigste. Die Polizei hat ihn seiner Mutter, einer Alkoholikerin, weggenommen, weil sie ihn misshandelte. „Ich hab mich halbstark benommen“, trompetet der 11-Jährige und bricht in unbändiges Gelächter aus. Ob er zu seiner Mutter zurückwolle: „Nein“, schüttelt Serjoscha den Kopf: „Die hat immer nur gebrüllt!“ Gewöhnlich bleiben die Kinder in diesem Heim nur so lange, bis ihre Krankheiten geheilt und ihre Personaldokumente beisammen sind. Wohin möchte Serjoscha danach? Er bricht plötzlich in Tränen aus: „Weiß nicht, weiß nicht“, sagt er und weint, während seine kleine Hand die Räder eines Spielzeugautos um- und umdreht. Nicht nur die Ungewissheit quält ihn, sondern auch die Scham: „Ich habe zu Hause oft mit Nachbarskindern gespielt. Die hatten nicht solche Probleme.“ BARBARA KERNECK
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