An der Peripherie von Popstars

Autobiografie eines Überlebenden: In seinem Buch „My Life in the Blank Generation“ hat Gary Valentine, Exgitarrist von Blondie, seine Erinnerungen an die Punkrock-Revolte, seine Band und das New York der Siebzigerjahre verarbeitet

Am 9. August 1974 muss Richard M. Nixon als erster Präsident in der Geschichte der USA zurücktreten. Am selben Tag verliert auch Gary Valentine seinen Job als Hilfsarbeiter bei der E. J. Korvettes Company in Jersey City, einer Vorstadt von New York. Sein Vorarbeiter verdächtigt ihn kommunistischer Umtriebe: Valentine liest während der Mittagspause in alten französischen Büchern und weigert sich, während der Arbeit seine Sonnenbrille abzunehmen. Als bald darauf die ersten Punks in New York auftauchen, findet Valentine Gleichgesinnte. Er schließt sich der Band Blondie als Bassist an und komponiert die beiden Songs „X-Offender“ und „I’m always touched by your presence, dear“.

Valentine hat seine Erinnerungen an Blondie, Punkrock und das New York der Siebziger in einem Buch mit dem Titel „My Life in the Blank Generation“ verarbeitet: Eine anekdotenreiche Lebensbeschreibung in unverblümter Sprache. Valentines subjektive Ichs und Wirs sind eine Alternative zu den vielen „objektiven“ und „definitiven“ Popbüchern der letzten Zeit. „My Life in the Blank Generation“ ist fragmentarisch, chaotisch und zeigt einen Menschen im permanenten Ausnahmezustand. Viel ist über die Simplizität der Punkrebellion geschrieben worden, nichts aber darüber, wie schwierig es für Menschen wie Valentine war, überhaupt aus den Verhältnissen auszubrechen.

Wie andere Punk-Protagonisten stammt auch er aus einer desolaten Blue-Collar-Gegend in New Jersey. Von zu Hause fliegt er wegen Drogenproblemen und Sex mit einer Minderjährigen raus. Er schmeißt die Schule und hält sich erst mit Jobs und dann mit kleinen Gaunereien über Wasser. Es ist ein Alltag wie in einer Szene aus dem Stanley-Kubrick-Film „Clockwork Orange“. Weil sich Valentine wie die Musiker seiner Lieblingsband New York Dolls baumhohe Plateausohlenschuhe anzieht und die Augen mit Glitzer-Make-up schminkt, rufen ihn New-Jerseys-Rockergangs „Faggot“, Schwuchtel, verfolgen und bedrohen ihn mit dem Messer.

Die Flucht nach New York endet nicht im Punkrock-Paradies. Zeitweilig rutscht er in die Obdachlosigkeit ab, ernährt sich von Restaurantabfällen oder versucht sich mit Ladendiebstählen über Wasser zu halten. Seine Kleidung stammt von der Heilsarmee. Einmal werden ihm rote Beatle-Boots beim Mundraub aus einem Sandwichladen zum Verhängnis: Sie sind zwei Nummern zu groß. Nachts hängt er im „Club 81“ herum, einem ehemaligen Treffpunkt der Transvestitenszene in der Lower East Side. Drogen sind dort leicht zu kriegen, und sein Held Iggy Pop wird nicht nur auf Platte gespielt, sondern taucht gelegentlich mit David Bowie auf. Valentine ist stolz, wenn er ihnen beim Rauchen von Zigaretten zusehen darf, die mit Angel Dust versetzt sind. „Mein Leben findet an der Peripherie von Popstars statt“, heißt es einmal nüchtern.

Nach der offiziellen Lesart revolutionierten Mitte der Siebzigerjahre ein paar New Yorker Bands die Rockmusik im Handstreich. Es sollte weggehen vom Materialismus des Rock-’n’-Roll-Establishments. Bis zum erhofften Plattenvertrag, erzählt Gary Valentine, verdingten sich die Mitglieder von Blondie in Stripteaselokalen, dealten mit Drogen oder spendeten Blut. Bei der Produktion der Debüt-LP schrieb die Plattenfirma der Band die Reihenfolge der Songs vor: Valentine wehrte sich und musste gehen. So ist der Titel „Blank Generation“ pures Understatement. Blank heißt sowohl leer als auch nichts. New-York-Punk-Rock ist heute kein unbeschriebenes Blatt mehr, Überlebende wie Gary Valentine schreiben nicht über nichts. JULIAN WEBER

Gary Valentine: „New York Rocker. My Life in the Blank Generation“. London 2002. 276 Seiten, 10,99 £