: „China braucht eine aktive Arbeiterklasse“
Mit der Reformpolitik hat sich eine neue städtische Armut in China entwickelt. Der Soziologe Tang Jun hat sie analysiert
taz: Ihre Forschungen über die städtische Armut in der Volksrepublik erregen Aufsehen in den chinesischen Medien. Warum?
Tang Jun: Viele Jahre lang war Armut in China ein Synonym für das Leben auf dem Land. Wer in der Stadt wohnte, durfte unter den Bedingungen des maoistischen Systems dagegen als wohlhabend gelten. Heute gilt das nicht mehr: Zum einen weil der Staat den Zuzug vom Land nicht mehr so streng wie früher überwacht, zum anderen weil sich die Staatsbetriebe, die früher Arbeit und Wohnung garantieren, auflösen oder neue privatwirtschaftliche Strukturen geben.
Wie viele Arme gibt’s in den Städten?
Meiner Meinung nach zwischen 14 und 16 Millionen. Doch da ist jede Statistik problematisch. Bedenken Sie, dass sich im ganzen Land heute 100 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit befinden: Darunter 50 Millionen Bauern, die es nicht mehr auf dem Land hält, 20 Millionen Arbeiter, die in den letzten Jahren ihren Arbeitsplatz verloren, und 10 Millionen Jugendliche. Alle diese Gruppen tragen zur Entstehung der neuen Armut in den Städten bei.
Wie explosiv ist die Stimmung bei den Verlierern der Reformpolitik?
Viele haben die Hoffnung aufgegeben, dass die Regierung ihnen zur Hilfe kommt. Immer mehr Leute sind sich stattdessen der marktwirtschaftlichen Realität bewusst geworden – sowohl mit ihren Chancen, als auch mit ihren brutalen Folgen. Ganz allgemein hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass man sich nur noch auf sich selbst verlassen kann. Hinsichtlich der eigenen Zukunft sind deshalb vor allem die Älteren sehr pessimistisch. Zugleich investieren gerade die ärmsten Familien alles Geld in die Ausbildung der Kindern, auf denen ihre ganze Hoffnung ruht.
Die Regierung bietet Arbeitslosen manchmal Fortbildungen und versucht, ein soziales Sicherungsnetz aufzubauen. Kommt die Hilfe nicht an?
Was bisher läuft, sind Modellversuche, die sich meist an europäischen Vorbildern orientieren. Doch in China herrschen ganz andere Voraussetzungen. Beispiel Fortbildung: In Europa sind Arbeiter relativ gut qualifiziert, manche können dann nach einer Fortbildung in den Dienstleistungssektor oder in andere Betriebe wechseln. In China aber haben die Entlassenen in der Regel ein ganz niedriges Bildungsniveau. Zum Punkt Sozialversicherung: Gerade die neu entstehenden Privatfirmen, aber auch die Jointventure-Firmen ausländischer Konzerne rechnen mit extrem niedrigen Lohnkosten in China. Dabei ist der gesetzlich vorgeschriebene Anteil der Lohnnebenkosten in China relativ hoch: Er liegt bei 20 Prozent des Gesamteinkommens aller Arbeiter in einer Firma allein für die Rentenversicherung, hinzu kommen 6–8 Prozent für die Krankenversicherung, 6–10 Prozent für Wohnungsbeihilfe und 1–3 Prozent für Arbeitslosenversicherung. Doch kaum eine private Firma zahlt so viel: Es gibt einfach zu viele Arbeitssuchende.
Rechnen Sie mit zunehmenden Protesten der Arbeitslosen?
Proteste gibt es bislang nur dort, wo die Leute überhaupt keine Arbeit mehr finden und zugleich gar kein Geld mehr bekommen. Gibt es dagegen Arbeit auch ohne soziale Garantien oder wird zumindest ein Existenzminimum von der Regierung gezahlt, bleibt die Lage ruhig.
In Daqing demonstrieren Arbeitslose, denen es für chinesische Verhältnisse relativ gut geht.
In Schanghai und einigen Städten Nordostchina wie der Stahlarbeiterstadt Anshan oder eben Daqing besteht schon heute ein soziales Bewusstsein der Arbeiterklasse. Das ist aber die Ausnahme. In China ist die Industrialisierung erst zwei, drei Generationen alt. Erst seit 1950 sind viele Bauern zu Arbeitern geworden. Deshalb ist die Entstehung einer Arbeiterklasse als gesellschaftliche Kraft immer noch Zukunftsaufgabe. Gerade die neue Arbeitslosigkeit stellt uns jedoch vor die Herausforderung, dass die gesellschaftlichen Klassen oder Gruppen, wie immer man sie nennt, miteinander verhandeln und neue soziale Methoden entwickeln müssen, die alle akzeptieren. Eine selbstbewusste Arbeiterklasse wäre in diesem Sinne gut für China. Zumal es gerade der neuen chinesischen Mittelklasse an sozialem Verantwortungsgefühl fehlt. INTERVIEW: KRISTIN KUPFER
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