: Wohlfeile Rückschlüsse
Kulturpessimisten und Konservative nutzen die Ereignisse von Erfurt, ihre abgestandene Sicht auf die Welt darzulegen
von EBERHARD SEIDEL
Bundespräsident Johannes Rau hat nach der Bluttat von Erfurt etwas sehr Vernünftiges gesagt: „Wir haben keine Antwort, und wir wollen auch keine schnellen Antworten geben.“ Tatsächlich handelt es sich bei dem Verbrechen in Erfurt um etwas so Singuläres, um etwas, was so weit außerhalb unserer Erfahrungswelt liegt, dass ein schnelles Begreifen unmöglich erscheint.
Sehr erfolgreich wird Rau mit seiner Bitte, keine voreiligen Schlüsse über die Hintergründe der Tat zu ziehen, nicht sein. Denn immer dann, wenn Kinder nicht die Träume der Erwachsenen erfüllen, nicht gut und lieb sind, sondern böse, geraten Konservative außer Kontrolle. Und sie stellen, wie der Thüringer Landespolizeipfarrer Christian Tschesch, nicht weniger als die gesamte Gesellschaft unter Anklage: Der Amoklauf des 19-Jährigen habe gezeigt, so Tschesch, dass Menschenwürde und der Wert des Lebens in der Gesellschaft „nur noch einen geringen Stellenwert“ haben. Tschesch, der nach der Bluttat die Einsatzkräfte in Erfurt betreute, beobachtet nicht nur eine dramatisch gestiegene Gewaltbereitschaft im täglichen Miteinander. Er weiß auch, dass das mit „Nachlässigkeit an Schulen“ zusammenhängt. Diese beginne bereits mit dem Wegsehen der Lehrer bei vergleichsweise harmlosen Dingen wie dem Rauchen auf dem Schulhof.
Vom Rauchen auf dem Schulhof zum monströsen Amoklauf. Kulturpessimisten und Konservative lassen keine Peinlichkeit aus, wenn sie eine Möglichkeit sehen, ihre abgestandene Sicht auf die Welt im Allgemeinen und auf die Pädagogik im Besonderen in die Diskussion zu bringen. Zum Beispiel Bayerns Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU), die gestern in einem Kommentar in Bild am Sonntag forderte: „Verbietet den Gewaltschund!“ Gemeint sind natürlich „brutale, blutige und menschenverachtende Filme“, die laut Hohlmeier nichts mehr in unseren Familien zu suchen hätten. Weiter schreibt die Ministerin: „Gewalt scheint ja mittlerweile zum Alltag zu gehören. In Familien, in unserer Gesellschaft. Keine Grenzen, keine Tabus. Erziehung und Werteorientierung sind in den vergangenen Jahren als konservatives Palaver abgetan werden.“
Die bayrische Kultusministerin folgt mit ihrer Anklage einem alten konservativen Muster: Hier das furchtbare und gewalttätige Heute – dort das gute und reine Gestern. Seit Jahren behaupten sie deshalb nach jeder besonders grausamen Bluttat, ein Immer-Mehr von Gewalt an den Schulen, im Fernsehen und auf den Straßen. Auch an ihren Lösungsvorschlägen hat sich im Laufe der Jahre wenig geändert: schneller, härter und länger bestrafen und einsperren, mehr Kontrollen an den Schulen, mehr Selbstkontrolle von Medien und Politik, mehr Verbote und Zensur bei Gewaltverherrlichung.
Wer in dieser Situation darauf verweist, dass die Gewalt mitnichten zugenommen habe und deshalb für Kulturpessimismus kein Anlass bestehe, macht sich unbeliebt. Und es ist kaum anzunehmen, dass der niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer (SPD) in den nächsten Tagen allzu viel Beachtung findet, wenn er meint, die Gewalt an Schulen sei in letzter Zeit nicht größer, sonder eher geringer geworden. Da wird dann auch wenig helfen, dass diese Beobachtung von dem Sprecher der Berliner Schulverwaltung, Thomas John, ebenso bestätigt wird wie von Langzeituntersuchungen, die der Bielefelder Sozialforscher Klaus Hurrelmann vor einigen Jahren an deutschen Schulen durchgeführt hat.
So beliebt die These, die Gesellschaft würde immer gewalttätiger, auch ist, empirisch lässt sie sich nicht untermauern. Pfeiffer überraschte die Öffentlichkeit bereits Ende der Neunzigerjahre mit der Erkenntnis: „Langzeitstudien belegen, dass in den Städten über die Jahrhunderte das Risiko drastisch abgenommen hat, getötet zu werden. Das Gewaltrisiko ist gesunken, kurz: Die Gesellschaft ist über die Jahre ziviler geworden.“ Vor allem die Erklärung, warum das so ist, dürfte Konservative überraschen: „Die Langzeittendenz hängt von der Rolle der Frau ab und davon, inwieweit sie ihren pazifistischen Einfluss geltend machen kann. Je gleichrangiger die Frau, desto zivilisierter ist die Gesellschaft.“
Aber man muss nicht erst in ferne Jahrhunderte schweifen, um festzustellen, dass die Republik keineswegs von einer Gewaltwelle überrollt wird. Heute wird in Deutschland nicht mehr gemordet als in den vermeintlich goldenen Fünziger- und Sechzigerjahren. Seit Jahrzehnten werden in Deutschland pro 100.000 Einwohner rund 1,4 Menschen im Jahr umgebracht. Auch geschossen wird heute entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil weniger als früher. 1972 wurden in Westdeutschland 13.709 Straftaten registriert, bei denen geschossen wurde, im Jahr 2000 waren es in Gesamtdeutschland 6.937 Fälle. Und im Bereich der Raubdelikte nehmen die angezeigten Fälle seit fünf Jahren kontinuierlich ab, wie insgesamt die Gewaltkriminalität seit Mitte der Neunzigerjahre bei rund 185.000 angezeigten Fällen jährlich stagniert.
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