: „Sie müssen die Angst zulassen“
Kinder-Psychotherapeut Gerhard Scheffler über Möglichkeiten, mit dem Albtraum des Amoklaufs umzugehen: „Der Verarbeitungsprozess wird dauern“
Interview KATHARINA KOUFEN
taz: Welche Folgen wird der Amoklauf für die Schüler des Erfurter Gymnasiums haben?
Gerhard Scheffler: Es ist eine Atmosphäre der Bedrohung entstanden, die bei jedem Menschen zu einer tiefen Verunsicherung führen würde. Aber Jugendliche sind obendrein innerlich oft sehr schwach und unsicher. Deshalb löst gerade bei ihnen so ein Erlebnis große Angst und ein Gefühl von Ausgeliefertsein aus.
Was ruft das konkret für Symptome hervor?
Die Angst kann sich in den klassischen Symptomen äußern, zum Beispiel in Albträumen und Schweißausbrüchen, in einem Gefühl von Lähmung oder Kälte. Die Verarbeitung des Geschehens kann aber auch zu Depressionen führen – oder in das Gegenteil umschlagen: Um Angst und Depression abzuwehren, reagieren Menschen auch mit Aggressionen. Hinzu kommt, dass viele Schüler Schuldgefühle haben werden. Sie fragen sich, wie sie die Tat hätten bemerken und verhindern können.
Hätten sie das denn?
Hinterher ist man immer schlauer, und der Täter war ja schon gar nicht mehr ihr Mitschüler. Interessant ist aber, dass es jetzt heißt, der Täter sei „unauffällig“ gewesen und introvertiert. Solche Jugendliche haben oft das Gefühl: Mich mag sowieso keiner. Deshalb muss ich mich wehren, bevor ich vernichtet werde. Und dann reicht oft ein läppisches Ereignis, dass es zu sehr aggressiven Äußerungen kommt.
Wie können die Jugendlichen jetzt mit ihren Schuldgefühlen fertig werden?
Den Schülern muss geholfen werden, einen Verarbeitungsprozess einzuleiten. Das kann sich durch Sprechen äußern, aber auch durch Malen oder Musik. Da müssen Therapeuten, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen an die Schule kommen. Eine Möglichkeit wäre auch, dass die Lehrer regelmäßig mit den Schülern über ihre seelische Situation sprechen. Dieser Verarbeitungsprozess wird sehr lange dauern: Es müssen die Ereignisse durchgesprochen, es müssen Fantasien zugelassen werden.
Wie sehen solche Fantasien aus?
Albträume, dass da wieder einer rumläuft, dass es sehr gefährlich ist, in die Schule zu gehen.
Wie lange kann so ein Trauma anhalten?
Das hängt von der emotionalen Stärke des Einzelnen ab. Einige können das in einem Vierteljahr verarbeiten, andere brauchen Jahre. Traumata können sich auch ein Leben lang immer wieder reaktivieren: Wenn ähnliche Situationen eintreten, wenn man Bilder sieht oder etwas zu dem Thema liest.
Sollten die Schüler mit dem Ort ihres Traumas konfrontiert werden oder ferngehalten?
Zunächst ist es klug, die Schule zu schließen und mit den Schülern über die Bilder der Toten, die sie gesehen haben, zu sprechen. Dauerhaft aber die Schule zu schließen, fände ich keine Lösung. Wenn die Kinder nicht mit der Realität konfrontiert werden, machen sie sich sich nur noch stärker ihre eigenen Fantasien.
Wie können Eltern damit umgehen?
Die Jugendlichen brauchen jetzt noch mehr als sonst den Halt des Elternhauses. Aber die Eltern müssen auch ihre eigene Angst zulassen. Das ist ja häufig ein Problem: Eltern spielen eine Stärke vor, die sie gar nicht haben.
Was antworte ich meinem Kind, das den Amoklauf durch das Fernsehen mitbekommen hat, wenn es sagt: Ich traue mich nicht mehr, in die Schule zu gehen?
Ich könnte sagen: „Ich verstehe, dass du Angst hast, ich habe auch Angst. Wir versuchen gemeinsam, damit umzugehen.“ Vielleicht können Eltern ihren Kindern anbieten, sie in die Schule zu begleiten. Oder einen Elternabend einberufen, an dem auch die Schüler teilnehmen und man gemeinsam über das Thema redet.
Würde es helfen, die Sicherheit an den Schulen zu erhöhen?
Auf keinen Fall. Wir können doch die Schulen nicht zu Hochsicherheitstrakts machen. Das erzeugt auf die Dauer noch viel mehr Angst.
Muss – und kann – man die Lehrer besser auf solche Situationen vorbereiten?
Ja. Der Geschichtslehrer zum Beispiel hat vorbildlich gehandelt. Solche Reaktionen kann man trainieren. Die Schulen könnten Fachleute einladen, die mit Extremsitutaionen umgehen und Strategien von Stärke vermitteln können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen