: Schnellschüsse nach Amoklauf
Nach der Ermordung von 16 Menschen in der Gutenberg-Schule von Erfurt überbieten sich Politiker aller Parteien in Vorschlägen zur Gewaltprävention. Doch Experten warnen vor einfachen Lösungen
BERLIN taz ■ Nach der Bluttat von Erfurt, bei der 17 Menschen erschossen wurden, hat am Wochenende eine Diskussion über den Umgang mit Gewalt in der Gesellschaft und ihre Darstellung in den Medien begonnen. Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) sprach sich für eine Ächtung von Gewaltvideos aus. Der deutsche Philologenverband machte die „allabendliche Horrornachrichten“ im Fernsehen mit verantwortlich für die Gewalt. Eine Allparteienkoalition von der Polizeigewerkschaft über den innenpolitischen Sprecher der Grünen, Volker Beck, bis hin zum bayerischen Innenminister Günther Beckstein (CSU) forderte eine Verschärfung des erst am letzten Freitag geänderten Waffenrechts.
Die Bundesfamilienministerin, Christine Bergmann (SPD), dagegen wünschte, dass den Problemen von Kindern und Jugendlichen in Familie und Schule künftig mehr Gewicht geschenkt wird. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel sprach sich für eine Diskussion über Werte und Erziehung aus.
Im Gegensatz zu den Politikern äußerten sich Sozialwissenschaftler weniger forsch zu den Folgen von Erfurt. So warnte der Medienpsychologe Jo Groebel davor, Medien zum Sündenbock für die Bluttat zu machen: Hunderttausende Jugendliche, die sich mit Gewalt im Internet, am PC, auf Video oder im Fernsehen befassten, würden niemals gewalttätig. Tatsächlich ist die Gewaltkriminalität bundesweit in den letzten Jahren nicht gestiegen. Im Bereich der Raubdelikte nehmen die Fälle seit fünf Jahren ab, und auch an Schulen sinkt die Gewaltbereitschaft. Die Häufigkeit des Einsatzes von Schusswaffen hat sich im Vergleich zu den 70er-Jahren sogar halbiert.
Joachim Kersten, Soziologieprofessor an der Fachhochschule für Polizei in Baden-Württemberg, nannte es zwar verständlich, dass nun nach Ursachen und Kausalitäten für das Massaker gesucht werde. Er warnte aber im taz-Interview vor der Illusion, zu glauben, man könne konkrete Faktoren für eine solche Tat benennen. „Der Amok verweigert sich Versuchen, ihm Sinn zu geben“, sagte Kersten. Der Soziologe blieb allerdings skeptisch, dass diese Form von Gewalt durch Verbote präventiv verhindert werden könne. „Am ehesten hilft ein Bewusstsein davon, wie sich solche Taten aufbauen“, meinte Kersten.
In diesem erregten Diskussionsklima bereiten sich die Lehrer nicht nur in Erfurt auf eine schwierige Woche vor. „Am heutigen Montag kann an den Schulen auf keinen Fall einfach zur Tagesordnung übergegangen werden“, kündigte der Sprecher der Berliner Schulverwaltung, Thomas John, an. Es gelte nun, in Gesprächen die „Fassungslosigkeit“ zu überwinden, die das Verbrechen von Erfurt bei Schülern und Lehrern ausgelöst hat.
EBERHARD SEIDEL
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