„Mit stürmischen Heilrufen“

Vor 75 Jahren protestieren Arbeitermassen im Lustgarten. Wenig entfernt redet Adolf Hitler erstmals in Berlin. Für die Presse ist er da nur ein ungefährlicher Romantiker

von PHILIPP GESSLER

„Die Versammlung hörte ihn an, schwieg, spendete einigen antisemitischen Kraftsprüchen einigen Beifall und ging wieder heim. Die Maßkrugstimmung fehlte. Es ist aus mit Hitler.“

(Vorwärts, 2. Mai 1927)

Es war ein prächtiger Sonntag, dieser 1. Mai vor 75 Jahren. „Herrlichstes Frühlingswetter“ habe in Berlin geherrscht, schrieb die Vossische Zeitung zwei Tage später. Die traditionellen Maikundgebungen der Arbeiterklasse waren in der Hauptstadt und im ganzen Reich fast ausnahmslos störungsfrei geblieben: „überall ruhiger Verlauf“, notierte das Berliner Tageblatt. Im Lustgarten und auf dem Schloßplatz versammelte sich gegen Mittag zu einer großen Demonstration mindestens 50.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Der Vorwärts, das Zentralorgan der SPD, schätzte gar mehr als 700.000 Demonstranten. Erstmals beteiligten sich auch die Kommunisten an der zentralen Kundgebung. Auf dem Sportplatz des Berliner Sportvereins 1893 in Schmargendorf wurde ein Mitglied des Kampfgerichts beim Kugelstoßen unglücklich von einer Kugel am Schädel getroffen. Wenn überhaupt, dann schaute die Welt an diesem Tag in die USA. In Louisiana brachen fünf Deiche des Mississippi, die Fluten brachten 150.000 Menschen in Gefahr.

Doch die wahre Gefahr lauerte an diesem Tag anderswo. Der Münchener Politiker Adolf Hitler (38), „Führer“ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei (NSDAP), sprach in Berlin. Erstmals. In der Stadtmitte, im Konzerthaus „Clou“, Mauerstraße 25, kamen zwischen 2.000 und 4.000 Interessierte zusammen. Die meisten waren Parteimitglieder. Oder sollten es offiziell zumindest sein, denn der ehemalige Weltkriegsgefreite und gescheiterte Putschist Hitler durfte in Preußen nicht öffentlich reden. Deshalb war die „deutsche Maifeier“ als eine „geschlossene Mitgliederversammlung“ der NSDAP deklariert worden.

Es war keine gute Zeit für den „Führer“ und seine Partei. Der frühere Wiener Postkartenzeichner hatte am 8. und 9. November 1923 in der bayerischen Landeshauptstadt einen kläglich fehlgeschlagenen Putsch versucht. Das hatte ihm zwar landesweite Popularität in rechtsnationalen Kreisen gebracht. Er bezahlte jedoch mit einem Hochverratsprozess und einer fünfjährigen Haftstrafe, aus der er allerdings schon Ende 1924 entlassen wurde. In der Festungshaft hatte er sein programmatisches Werk „Mein Kampf“ verfasst. Mühsam versuchte Hitler nun, seine Partei, nach dem Putsch verboten, wieder neu zu gründen und auf sich zu vereinen. Sehr attraktiv waren die zerstrittenen Nationalsozialisten für das Wahlvolk nicht: In diesen relativ stabilen Jahren der Weimarer Republik krebste die NSDAP reichsweit bei rund 3 Prozent herum.

Kein Wunder, dass die Zeitungen der Hauptstadt die erste Rede Hitlers an der Spree in der Regel auf Meldungslänge abhandelten. Das Naziblatt Der Stürmer schrieb von den „totgesagten Nationalsozialisten“. In der „verjudeten Reichshauptstadt“, wie in diesem Hetzblatt zu lesen war, herrschte eine relativ liberale Stimmung. Der Berliner Polizeipräsident Karl Zörgiebel und sein Vize Bernhard Weiß waren die Hassfiguren der Nazis, da sie die Antidemokraten genau beobachten ließen. Der Jude Weiß wurde von der Nazipresse als „Isidor Weiß“ diffamiert.

Allerdings hatten die Nationalsozialisten durchaus Sympathisanten in Polizeikreisen, was an einem recht typischen Vorfall deutlich wurde. In der Nacht zum 21. März kam es an der S-Bahn-Station Lichterfelde Ost zu einem Zusammenstoß zwischen rund 600 SA-Angehörigen und 23 uniformierten Kommunisten. Letztere wurden zusammengeschlagen, fast gesteinigt. Auch zwei SA-Leute waren schwer verletzt. Im Siegesrausch zog die Horde zum Ku’damm, wo die Nazis Passanten anpöbelten, die ihnen jüdisch vorkamen. Die Polizei hinderte sie nicht.

Es war ein heißes Pflaster also, auf dem Hitler zu reden sich vorgenommen hatte. „Die Polizei hatte umfangreiche Sicherungsmaßnahmen getroffen“, schrieb die Frankfurter Zeitung, das Vorläuferblatt der FAZ, in einer Rückschau. Wie genau die Staatsmacht aufpasste, wird an den ersten Sätzen des Berliner NSDAP-Gauleiters Joseph Goebbels deutlich, dessen Worte die Vossische Zeitung festhielt. (Die Redaktion dieser angesehenen Zeitung saß in der Kochstraße, wo heute die taz gemacht wird.)

Der promovierte Germanist Goebbels sagte in seiner Begrüßungsrede: „Meine Damen und Herren! Hier sehen Sie unseren Adolf Hitler, der berufen ist, Deutschland zum Lichte zu führen. Hinter ihm sitzen sechs ehrenwerte Männer, die seine Reden mitstenografieren. Hinter diesen stehen weitere sechs ehrenwerte Männer, die aufpassen, dass auch richtig stenografiert wird. An dem Ring der Eide dieses Dutzends von ehrenwerten Männern werden die Verdrehungskünste der preußischen Regierung, die sicherlich nach der Rede unseres Adolfs einsetzen werden, zerschellen!“

Der Gauleiter habe sich „in heftigen Angriffen gegen die anwesenden Polizeibeamten“ ergangen, notierte die seriöse Frankfurter Zeitung. Goebbels hatte allen Grund, sich als besonders begeisterter Hitlerfan zu gerieren. Noch ein Jahr zuvor war er Anhänger des linken NSDAP-Flügels, den Hitler mit seinen bayerischen Kampfgefährten im Februar entmachtet hatte. Goebbels notierte damals in seinem Tagebuch: „Ach Gott, wie wenig sind wir diesen Schweinen da unten gewachsen!“, erkannte aber schnell, woher nun innerparteilich der Wind wehte. Mit Erfolg. Noch im selben Jahr machte ihn der „Führer“ zum Leiter des Partei-Gaus Berlin-Brandenburg. Goebbels hatte also bei Hitlers erster Rede einiges zu beweisen.

„Mit stürmischen Heilrufen“, so die Frankfurter Zeitung, wurde der „Führer“ empfangen. Schon zuvor waren die anwesenden Parteigenossen in Stimmung gebracht worden: mit „Ansprachen, Gesang, Fahneneinmarsch, Trommelwirbel, Gedichtvortrag“, wie die nationalsozialistische Berliner Abendzeitung festhielt.

Dann aber redete der „Führer“. Zwei Stunden lang. Er handelte offensichtlich seine Lieblingsthemen „Volk ohne Raum“ und die Einigung des Reiches unter seiner Partei und sich selbst ab. Genauer lässt sich das nicht mehr rekonstruieren, da die Bericht erstattenden Journalisten in ihren Zeitungen jeweils sehr unterschiedliche Zusammenfassungen der Rede lieferten.

Völlig unklar ist auch, wie die Rede ankam. Das NS-Blatt Berliner Abendzeitung registrierte „Beifall ohne Ende“ und schloss den Artikel mit erwartbar hymnischen Sätzen: „Der da hinausschritt zwischen Wällen begeistert erhobener Hände, unter sich neigenden Kampffahnen, wird Deutschland die Freiheit geben!“ Das SPD-Organ Vorwärts dagegen erlaubte sich den Spaß und fertigte die erste Rede des bayerischen Demagogen in einer neunzeiligen Meldung samt der Überschrift „Hitlers Ende“ und „Es gelingt nichts mehr, es zieht nichts mehr“ ab. Lakonisch hielt der Vorwärts-Reporter fest: „Erstes Auftreten in Berlin unter gähnender Langeweile des Publikums: es gibt kein sichereres Zeichen für sein politisches Ende.“

Viele Berliner Journalisten lagen in ihrer Analyse der Rede so völlig verkehrt wie der sozialdemokratische Korrespondent – insofern war sein erster Auftritt durchaus ein Erfolg für Hitler, der in diesen Jahren bestrebt war, seiner antidemokratischen Partei einen staatstragenden Anstrich zu geben. Dass diese Legalitätstaktik funktionierte, zeigt die Wertung der Deutschen Allgemeinen Zeitung, die die „Clou“-Show so bilanzierte: „Eine Gefahr für den Staat ist Hitler wirklich nicht mehr, und man sollte ihn deshalb ruhig reden lassen.“ Das Berliner Tageblatt anerkannte die „ausnahmsweise maßvolle Tonart“ der „Führer“-Rede. Im Montag, einer Sonderausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers, schrieb ein beeindruckter Reporter: „Die Zeit, da sein Name noch ein Problem bedeutete, ist vorüber.“ Der bürgerliche Journalist forderte, man solle Hitler „in Gottes Namen“ reden lassen: „Romantiker waren noch nie gefährlich.“ Mit unterschwelliger Sympathie hielt die Preußische Zeitung („Kreuz-Zeitung“ genannt) fest, dass über Hitler nur noch in Preußen ein Redeverbot verhängt sei.

Wes Geistes Kind die NSDAP trotz allem geblieben war, zeigte ein Vorfall wenige Tage danach: Am 4. Mai wurde im Kriegervereinshaus an der Chausseestraße ein Pfarrer schwer verprügelt, weil er eine Rede Goebbels’ durch Zwischenrufe gestört hatte – ein Eklat, der Polizeipräsident Zörgiebel den Anlass gab, die Berliner NSDAP zu verbieten. Bis Ende März 1928 wurde das Verbot aufrechterhalten, dann waren die Berliner Nazis wieder da. Die Vossische Zeitung notierte aus Hitlers Rede im „Clou“ wenig mehr als seine Prophezeiung, „daß in wenigen Jahren Deutschland geeint in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei stehen würde“. Wie schrecklich wahr diese Aussage sein würde, ahnten damals nur wenige.