: Gedanken um den roten Knopf
Zwischen Angst und Erklärungsversuchen. Der Amoklauf von Erfurt ist unter den Lehrern Thema, weniger auf dem Schulhof. Ein Besuch im John-Lennon-Gymnasium in Mitte
Zwei Mädchen schlurfen auf großen Turnschuhen den Gang entlang. „Gedenkminute? Finde ich scheiße“, sagt die eine, „müsste man jeden Tag machen, kommen ja jeden Tag Leute um.“ Die Freundin nickt und sagt, dass auf den Gängen trotzdem „gelabert“ wurde. Dann schlurfen sie fort mit hängenden Schultern, die nichts bedeuten, keine Trauer, höchstens „egal“. Das Abi ist fern und Erfurt auch.
„Nach dem 11. September war es anders. Da war die Betroffenheit größer“, findet Johannes Waligora aus der 13 Klasse. Sein Lehrer hat eine Stunde seine Sicht dargestellt, diskutiert wurde kaum. Wer sich am Montag nach dem Amoklauf von Erfurt am John-Lennon-Gymnasium in Mitte umhört, der erfährt: Vor allem Lehrer haben das Bedürfnis zu reden. Das liegt am Beruf und vielleicht auch daran, dass die meisten der Opfer Lehrer waren.
Mittags nach dem Pausenklingeln flitzen die Pauker ins Lehrerzimmer, eilig und schlüsselklimpernd – es gibt keine Klinke. Drinnen stapeln sich Kollegen mit besorgten Gesichtern auf einer außerordentlichen Sitzung. „Es ist sinnlos, das Thema in jeder Stunde zu behandeln“, warnt Schulleiter Jochen Pfeifer. Viele nicken. Eine Kollegin fragt, ob man nicht ein Alarmsystem installieren müsste. „Es wird keinen roten Knopf geben“, sagt Pfeifer streng. Er glaube einfach nicht, dass so etwas an dieser Schule passieren kann, auch weil es hier nicht üblich sei, dass ein Schüler ohne weitere Betreuung von der Schule fliegt. „Noch dazu kurz vor dem Abi“, ruft jemand. „Und wer in Thüringen durch das Abitur fällt, hat nicht automatisch den Realschulabschluss, der hat erst mal nichts“, sagt ein Lehrer.
Die Tür geht auf, ein Kamerateam tritt ein. Sechs hatten angefragt, aber nur die „Abendschau“ darf drehen. Das Kollegium ist nur mäßig begeistert. Der Direktor sagt in die Unruhe hinein, er sei froh, dass es eine kurze Woche wird, wegen des 1. Mai.
Englischlehrer Knipp eilt zurück in die Klasse, er findet einen Amok absolut unrealistisch. Es gebe „noch nicht einmal Kabbeleien auf dem Hof“.
Pfeifer wartet im Büro auf das TV-Team, sie drehen noch. Er nippt Kaffee und sucht nach Erklärungen. Viel liege an den Eltern, die wollten ihr Kind trotz Realschulempfehlung unbedingt aufs Gymnasium schicken. Deshalb lässt er sich von den Eltern jetzt schriftlich bestätigen, dass sie die Verantwortung für das Scheitern ihres Kindes tragen. Gut fühle er sich dabei nicht, aber oft hilft es.
JAN ROSENKRANZ
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