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Das hätte Erich nicht hingekriegt

Die Erlebnisse eines Hamburgers auf Rügen, zwölf Jahre nach der Wende: Er wird aufgeklärt über den Ursprung der Hühnergötter, verspürt ein echtes Wohlfühlklima in der Spechthöhle und löst das Rätsel um den VEB. Sogar Lob für den Westen ist zu hören für die 1 a-Sanierung der Altstadt von Greifswald

„Harte Kerle, ihr Ossis“, sage ich. „Na ja“, relativiert er, „hatte Lust zu radeln.“

von GERD SCHUMANN

Kurz vor der Insel, zu DDR-Zeiten ostdeutsches Urlaubsziel Nummer eins, studiert ein Mann, sein Fahrrad neben sich, eine überdimensionale Landkarte. Heute früh ist er in Binz gestartet, 50 oder 60 Kilometer, Donnerwetter!, und alles nur, um mittags bei seiner Tante zu essen. „Harte Kerle, ihr Ossis“, sage ich. „Na ja“, relativiert er, „habe die alte Dame lange nicht gesehen und außerdem einfach nur Lust gehabt, zu radeln.“ Allerdings nervt der Verkehr. In der DDR war es besser. Ich: „Gab ja auch weniger Autos.“ Er lächelt: „Vor allem langsamere.“ Jetzt zieren ungezählte Kreuze die Wegesränder, in vielen Varianten, manche geschmückt mit Plüschtieren aller Art, Blumen aus Plaste – Schkopau? – und in echt oder auch mit Mini-Bierkrug und Flachmann. Georg, Anke, Köpi, Maik, Herr Pietsch, Susi, alle übern Jordan.

Den „Rügendamm“ in steifer Brise überquert, links ab nach Altefähr, wo ich mein Zelt aufbaue und duschen gehe. Ein Chip reicht. Glück gehabt. Abends am Wasser sitzend platzt sich eine Frau um 30 neben mich, M. „aus Ostberlin“, wie sie sagt. Quatscherei „fast wie damals“, kommentiert M., als sie und ihre „Clique“ in den Sommerferien oder zu Ostern unterwegs waren. An den Abwaschplätzen traf man sich. Und am Grillplatz. Hatte was Familiäres fast. Zurück am Zelt versperrt ein Auto den Eingang. Komischer Parkplatz. „F“- Nummernschild: „am Main“, nicht „an der Oder“, versteht sich, meint M.

Hiddensee mit Gerhard Hauptmanns Museumsvilla sowie Nina Hagens vergessenem Farbfilm links vorn in der See liegen gelassen, und ab durch die Inselmitte. Kopfsteinpflaster in Schabernack, niemand zu sehen, mit dem selbiger anzustellen wäre oder der den Dorfnamen erklären könnte, zwischendurch noch das Geburtshaus von Ernst Moritz Arndt, da nähere ich mich Putbus, das heute eine einzige Baustelle ist. Des Fürsten Prachtbauten sollen wieder schön weiß glänzen. Fehlt nur noch Seine Hoheit persönlich. Bis 1945 gehörte Malte Friedrich zu Putbus, Urgroßneffe sowie NSDAP- wie auch SA-Mitglied, noch das Land, und auch sonst befand sich die Hälfte der Insel in den Händen weniger Großgrundbesitzer. Rügen galt reichsweit als hinterwäldlerisch. 1932 wählten 42 Prozent braun. In Sagard einen jungen Typen nach dem Weg gefragt, zu spät die metallene Rune unterhalb des steifen Kragens an einem Lederband eng um den Hals gespannt bemerkt. Ein Neonazi – „Wie kommst du bloß zu so was?“, höre ich mich sagen. Der Junge rührt sich nicht. Ist ja auch allein.

Nicht nur konvex gewölbte Tunnelalleen mit den Knallgrünbäumen, die ganz oben im Laubwipfel zusammengewachsen scheinen, gibt es hier noch, auch Knüppeldämme, beispielsweise von Altenkirchen nach Breege oder von Zirkow nach Kiehut. Sie machen den durchgeschüttelten Fahrradfahrer zum Armlahmen. Kap Arkona heißt mein Ziel, nördlichster Punkt der untergegangenen Republik einst, in der neuen nicht mehr, wegen Schleswig-Holstein. Die Busse stehen Stoßstange an Stoßstange, Scharen von Menschen begeben sich an Caspar David Friedrichs Kreidefelsen auf die Suche nach „Hühnergöttern“, wie die mit skurrilen Löchern ausgestatteten Feuersteinknollen auch genannt werden.

Im Museum neben einem von drei Leuchttürmen – der vierte liegt abseits und wird von der Bundeswehr betrieben, Horchposten Richtung Russland? – fragt mich eine leicht korpulente Frau mit undezenter US-Flagge auf weitem Sweatshirt, ob ich wisse, wie die „Hühnergötter“ zu ebensolchen geworden seien? Nee, meine ich, und sie erklärt. Früher hätten die Bauern Steine in Hühnernester gelegt, zum Schnabelschärfen, und die Tiere ihrerseits hätten den Kalk rausgepickt. Wieso und auf welchem Weg diese dann allerdings an den Ostseestrand gelangten, verschweigt die Geschichtenerzählerin, nur dass ihr Bruder ein fleißiger Sammler sei und die Steine „inklusive Löchern“ – sie grinst – so ab 2 Euro aufwärts verkaufe, „je nach Größe“.

Regen, Regen, Regen, eine feuchte Berg- und Talfahrt mit Bildern wie aus dem Hochglanz-Landschaftsfotobuch. Einem Wadenkrampf nahe erreiche ich, schon dämmert der Abend, den Wald-Campingplatz Nipmerow. „Zur Spechthöhle“ heißt die eigenartige Gaststätte mit silbriger Aluhülle. Ich soll einen Zettel ausfüllen, Vordruck mit viel zu langem Fragenkatalog, geeignet für umfangreiche Datensammlung … „Füll ich nicht aus“, sage ich. Muss aber, entgegnet der junge Mann. Müssen muss ich gar nichts. Eine ältere Frau mischt sich aus dem Hintergrund ein. „Wegen der Statistik.“ Welche Statistik? Für wen? Fürs Marketing? Oder für die Fremdenpolizei zur Verhinderung von Ausländern auf deutschen Zeltplätzen? Der Jüngling blickt hilflos. Die Frau flüstert in mein Ohr, ich könne reinschreiben, was ich wolle. Das tue ich. Später bestelle ich Bratkartoffeln und Spiegeleier. Sie schmecken gut, und auch sonst herrscht Wohlfühlklima. Die Rocker, die auf Harley Davidsons eingeritten sind, ordern Schnäpse, der gelernte Berliner aus Bad Segeberg neben mir bestellt seine dritte Halbe, eine Frau schreibt Postkarten, ihr schüchterner Freund mit den langen Haaren betrachtet sie ehrfürchtig.

Wieder unterwegs, bis ich endlich auf dem Zeltplatz am südlichen Ende von Rügen stehe. Das Rentnerehepaar, das neben mir in Wohnwagen mit großen Vordach lebt, kommt aus Greifswald, verbringt aber Teile von Frühling und Herbst und den ganzen Sommer hier. Er war 38 Jahre bei der Reichsbahn, sie beim „VEB Elektrokombinat“. Doch, kenne ich schon, das Kürzel „VEB“, antworte ich auf ihre Frage: „Volkseigener Betrieb“. Anerkennendes Nicken. Jedoch: Gibt’s lange nicht mehr, ebenso wenig wie größere Teile der Fischerei und Landwirtschaft. Trotzdem: Ist ja nicht alles schlecht heute. Wie die Altstadt von Greifswald: „Deren Sanierung hätte Erich niemals so gut hinbekommen.“ Sonderbares Lob für „den Westen“ am Ende Rügens. Und so etwas wie Wehmut beim Rentnerpärchen: Jahrzehnte hindurch für „eine bessere Welt“ gearbeitet, so ihr Anspruch, und kaum etwas davon blieb. Die Frau sagt, das mit den gesellschaftlichen Zielen, das haben wir uns abgeschminkt. Dafür sind wir zu alt.

Um halb sechs Uhr früh muss mein anderer Nachbar zur Arbeit. Er wohnt auf dem Zeltplatz, „kommt billiger“. Sein Auto rollt den Hang hinunter, und obwohl er, wie abends zuvor versprochen, „ganz leise“ ist, wache ich auf und kann nicht wieder einschlafen. Am Hafen, schon auf dem Festland nach heftiger Fährüberfahrt, bestelle ich einen Pott Kaffee. Und noch einen. Zwei Männer tätigen konspirativ-flüsternd Geschäfte, ich verstehe etwas von einem „halben Schwein“. Zwei Polizisten fahren vor. Sie werden misstrauisch beäugt. Die Männer wechseln ihr Thema.

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