: Shakespeare auf der Reeperbahn
Shakespeare oder nicht Shakespeare. Die Frage stellt sich, wenn junge Regisseure sich über das Werk des Dramatikers hermachen. Selten hat wohl eine Regisseurin ihre inszenatorischen Fähigkeiten mit soviel Unmaß ausgelebt, wie Dorothea Pudenz mit Maß für Maß – Mission.Impossible, das Freitag im Neuen Cinema Premiere feierte. Der Ärger des Zuschauers beginnt frühzeitig. Die Stühle sind auf der Bühne, in der letzten Reihe kann man das Geschehen nur erahnen, in der ersten Reihe wird man auf den Boden genötigt.
Die politische Macht herrscht von oben – vom schlecht ausgeleuchteten Balkon. Hier hat Vincentio, der Herzog von Wien, den Pudenz völlig unmotiviert von einer Frau, Regina Stötzel, spielen lässt, die Macht vorübergehend an den despotischen Angelo übertragen. Mit Hilfe eines neuen Gesetzes, das sittliche Vergehen unter strenge Strafen stellt, soll er den moralischen Verfall der Stadt stoppen. Der Übereifrige wendet das Gesetz sofort an. Es trifft den verträumten Claudio, der Julia ein uneheliches Kind bescherte.
Szenenwechsel. Wir befinden uns im Nachtclub Crazy Horse, wo ein Freund von Claudio namens Lucio, als eine glitzernde Mischung aus Lude und Showmaster, durchs wüste Programm führt. Zu Gitarrenklängen, die Sascha Mynarik aus einer Ecke beisteuert, nervt „Paloma Blanco“ aus Miami Beach mit einer peinlichen Sangeseinlage.
Soll hier die Spaßgesellschaft vorgeführt werden? Das verstehe, wer will. Unvermittelt greift Pudenz den Handlungsfaden wieder auf und lässt dem Despoten Isabella, Claudios Schwester, zuführen, die ihren Bruder um jeden Preis vor dem Galgen retten will. Bei Lisa Marie Jahnke wird die ehemalige Nonne zum schauspielerischen Lichtblick des Abends. Alles Märchenhafte bei Shakespeare ist getilgt, dafür finden wir uns mitten in der Sittenlosigkeit der Hamburger Reeperbahn und ihren leuchtenden Reklameschildern wieder. Platte Oberflächen, die zum Inhalt rein gar nichts beitragen.
Am Ende haben die Zuschauer keine Chance mehr. Der Herzog setzt Angelo fest, will ihn mit gleichem Maß messen, wie dieser zuvor den armen Claudio, doch alle überleben, setzen sich Bugs-Bunny-Ohren auf und knabbern Möhren. Warum Pudenz, Schauspieltheaterregie-Studentin an der Uni Hamburg, mit diesem Klamauk endet, wird wohl ihr Geheimnis bleiben.
ANNETTE STIECKELE
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