Ein Wortwirbler im Seelenwinkel

Hinschauen, zuhören, komponieren: zum 60. Geburtstag des bayerischen Sprachakrobaten Gerhard Polt

Ich könnte mir noch heute, mit dem Ex-Eintracht-Frankfurter Mirko Dickhaut zu reden, „selbst in den Arsch treten“. Eine Watsch’n reinsemmeln in meine damische Gosch’n könnt’ ich mir. 1988 war ich bei Tante und Onkel zu Besuch, unangemeldet, und weil ich schon als groß und vernünftig galt, wagten es die beiden, mich abends ein paar Stunden allein zu lassen. Bevor sie aber „zum Polt“ aufbrachen, versicherten sie mir, an der Kasse zu fragen, ob eventuell eine Karte zurückgegeben worden sei. Sie hätten mich dann angerufen, und ich wäre gen Ansbach geeilt wie der Wind und der Blitz zusammen. Ich verfiel indessen auf den Gedanken, meine Freundin anzurufen. Ich schnabelte und seierte herum, schier stundenlang. Mein Onkel versuchte vom Telefon im Foyer aus bis zum Programmbeginn, die Besetztzeichen zu verscheuchen. Vergeblich.

So verpasste ich einen der unvergleichlichen Abende mit dem Unerreichten aus Schliersee. Gerhard Polt war einmal mehr, so heißt das ja, „glänzend aufgelegt“ gewesen, und den irisierenden Schlusspunkt hatte er durch einen berauschenden russischen Unfugsmonolog gesetzt. Das erzählten mir Tante und Onkel hinterher freudestrahlend, ja freudeglühend. Zwecks Buße für meine Schandtat musste ich den Biernachschub aus dem Keller holen. Da kannte der Onkel kein Pardon.

Jener Auftritt, den ich nie gesehen hatte, zählte lange zu meinem privatmythologischen Kernbestand. Die begeisterungssprudelnden Berichte von Tante und Onkel lösten bei mir ein Gefühl beglückender Gelöstheit aus. Ihre Gesichter kündeten von Polts Genius, von seiner Erzähl- und Darstellungskunst, die zum (Nach-)Erzählen animierte, als nähmen die Dialoge, Dramolette, Parodien, Lieder kein Ende, als verlängerten sie sich ins wahre Leben hinein, als seien sie „im richtigen Leben“ angesiedelt. Polts Präsenzliteratur widerlegte mir gerade durch die womöglich in der Nacherzählung noch verstärkte Schärfe, Würde, Gelassenheit den Professor Adorno, bevor ich mit dem mehr verband denn den Namen. Zumindest sollte niemand Adorno lesen, ohne Polt zu hören. Und niemand sollte Polt lesen, ohne in Erwägung zu ziehen, dass die Figuren des kosmopolitischen Bayern von der Welt mehr zu berichten wissen als manch allzu dialektisch dichtes, dem trügerischen Omnipotenzpathos der Philosophie bisweilen verfallendes Verdikt des Frankfurters.

Nun hat Gerhard Polt heute die Lebensmitte erreicht und wird sechzig. Sein Verlag, Kein & Aber, beschenkt den Jubilar und uns mit einer Karl-Valentin-CD, der fabelhaften Hommage an den „unbekannten Valentin“ (unter Mitarbeit von Gisela Schneeberger und den Biermösl Blosn), und dem 830 Seiten starken, unverschämt schön gefertigten Band „Circus Maximus“, der das gesamte bis dato geschaffene Werk und einige unveröffentlichte Arbeiten zusammenfasst.

Dort lesen wir wieder und wieder und wieder das Schlüsselstück „Alles über den Russen“, und dann hören wir es auf der 1987er Platte „Freibank Bayern“. Oder wir stoßen jetzt bei Valentin/Polt auf den Dialog „Streit mit schönen Worten“, eine metasprachliche Wortverwirbelungs- und -verdrehungsakrobatik, die mich vor neuerlicher Beschämung und Inflammiertheit rot anlaufen lässt; denn hätten meine Freundin und ich einen derartig begnadeten Summs zusammengebabbelt, ich wäre zu 18 Prozent entschuldigt gewesen. Kurze Einblendung bei Schneeberger/Karlstadt und Polt/Valentin: „Ich verbitte mir ab heute jede Unzudringlichkeit, sonst werde ich dir den Himmel kalt machen! Es heißt zwar: die Hölle heiß machen, aber bei dir ist ja alles fruchtlos.“ – „E-le-o-nore, sei doch nicht vernünftig! … Wozu immer diese aufregenden Schmeicheleien? Sagen wir uns doch lieber in aller Ruhe die Gemeinheiten direkt ins Gesicht.“ – „Ja, du saudummer Kerl, do host recht! Da bin ich sofort damit einverstanden!“ – „Na also, du Rindviech, du depperts! Siegstes, es geht auch so!“

Polt ist: Valentin plus Warmherzigkeit plus einen weiteren Dreh Sprachmächtigkeit und künstlerische Dezenz; ist: Passion für die Wirklichkeit und eine „groß“ zu nennende Liebe zu den Torheiten, Albernheiten, Frechheiten und monströsen Verblendungen derer, die die Wirklichkeit zum Sprechen bringen.

Berichten statt richten – darin liegt keine Wurschtigkeit, keine Scheu vor Urteilen, sondern begründet sich die Polt’sche Trinität: hinschauen, zuhören, behutsam komponieren. Polt, der nie klüger tut, als es seine Texte und Figuren ohnehin sind, verfügt über ein kaum überschaubares Repertoire an Tonfällen und Gesten, an dramaturgischen Kniffen und literarischen Wendungen. Polt ist, es darf halt mal bündig so gesagt werden, ein Kontinent, ein Riese, der Bescheidenheit und Noblesse nicht zu mimen braucht. Beides besitzt er.

Bis in die letzten Winkel ihrer deformierten, brüchigen und gleichwohl seelenheiter nonsensbeschickerten, einen erheblichen Rest an Humanität bezeugenden Grammatik und Semantik spürt Gerhard Polt seinen richtig falschen Fuffzigern aus den höheren Etagen dieser demolierten Gesellschaft nach; und den Gescheiterten, Vereinsamten, Verarmten, Ausgebeuteten schenkt er eine sogar noch weitergehende Aufmerksamkeit. Das zuletzt, neben vielem anderen, unterscheidet ihn von jedem Brettlseppl und Kabarettkracher.

Ich habe mein Versäumnis mittlerweile halbwegs wettgemacht. Ich lese und höre Polt „teilnahmserregt“ (Valentin), ich „gucke“ Polt und telefoniere weniger. Und wenn er, so in Ute Caspers kürzlich auf Arte gezeigter feiner filmischer Ehrung, spricht, wägend und achtsam, unbehelligt von einem Publikum, das garantiert immer an den falschen Stellen gackert, dann möchte ich mich ernsthaft verbeugen vor einem, der niemanden als Gebeugten durchs Leben rumpeln sehen will. „Ich bin froh“, sagt Polt, „dass man einen Menschen – und das ist im Grunde das Schönste, was man einem Menschen sagen kann – dass er eben im Grunde nicht definierbar ist, dass etwas Geheimnisvolles bleibt an jedem Individuum – warum die Tante Anni so ist und der Onkel Sepp so ist … Genau das ist seine Freiheit: dass es für einen Menschen nicht einen gibt, der ihn betrachtet, sondern mehrere.“

So ist’s. So sollte ’s sein.

JÜRGEN ROTH

Gerhard Polt: „Circus Maximus“. Gesammelte Werke. Verlag Kein & Aber, Zürich 2002, 828 Seiten, 29,80 Euro.Zum 60. Geburtstag von Gerhard Polt hat die Brauerei Hopf ein spezielles Starkbier aufgelegt: „Poltator“. Ein Kasten mit 10 Flaschen à 0,5 Liter kostet 10 Euro inkl. Pfand. Der Erlös der insgesamt 2.000 Kästen geht an die Schilddrüsenzentren Minsk und Gomel. Hier werden Tschernobyl-geschädigte Kinder, Jugendliche und Erwachsene behandelt. Bestellung: Hopf GmbH & Co., Schützenstr. 8–10, 83714 Miesbach, Tel: (0 80 25) 29 59-15, Fax: (0 80 25) 29 59-29, www.hopfweisse.de