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Atomkügelchen auf dem Reetdach

Gutachter sehen Ursachenerklärung für die Leukämiefälle bei Kindern im Umkreis von Krümmel erhärtet: Nach einem Unfall müsse Kernbrennstoff aus der nuklearen Versuchsanlage von Geesthacht ausgetreten sein. Partikel in der Erde und auf Dächern

von HANNES KOCH

Das abgedeckte Reetdach weckte sein Interesse. Physiker Heinz Werner Gabriel klopfte auf die trockenen Halme, die dort in Bündeln neben dem alten Haus lagen. Weil er auf der Suche nach der Ursache geheimnisvoller Leukämie-Erkrankungen bei Kindern war, sammelte er den Staub ein und ließ ihn analysieren. Auf Proben wie dieser beruht nun die neueste Untersuchung über außergewöhnlich häufige Fälle von Blutkrebs im Umkreis des östlich von Hamburg gelegenen Atomkraftwerks Krümmel und der benachbarten nuklearen Forschungseinrichtung Geesthacht.

Nach Ansicht der Gutachter liegen jetzt weitere Indizien für einen Atomunfall in dem Forschungszentrum im September 1986 vor. Die Organisation Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) hat das Gutachten bei der Arbeitgemeinschaft Physikalische Analytik und Messtechnik (Arge Pham) in Auftrag gegeben. Deren Leiter Heinz Werner Gabriel bezeichnete sich gestern in Berlin ausdrücklich als „Befürworter der Kernenergie“, der um den guten Ruf dieser Technologie besorgt sei. Die Arge Pham wiederum hat die konkreten Messungen der Proben von der Universität Gießen durchführen lassen.

Untersucht wurden Kügelchen von maximal einem Millimeter Durchmesser, die man unter anderem in den oberen Erdschichten (bis 15 Zentimeter Tiefe) und in Wasserabläufen unter Hausdächern gefunden hatte. Mit dem Verfahren der Massenspektroskopie gelang es den Wissenschaftlern, den Aufbau und die Bestandteile der kleinen Partikel genauer als bisher zu bestimmen. Sie weisen in der Regel eine Hülle aus verschiedenen ungefährlichen Materialien auf, die ein radioaktiv strahlendes Innere umschließt. Im Kern der Kügelchen finden sich nukleare Spaltprodukte – zum Beispiel Transurane und Plutonium-Isotope. Gabriel definiert die Partikel als „Plutonium-Americium-Curium-Kernbrennstoff“. Dieses „PAC“-Material sei in den 80er-Jahren in Hanauer Atomanlagen hergestellt, möglicherweise auch in Geesthacht verwendet worden und habe zur Herstellung hochangereicherten nuklearen Spaltmaterials gedient.

Das entscheidende Ergebnis der Untersuchung: Die Isotope (Varianten) unter anderem des chemischen Elements Bor sind in den Kügelchen in anderen Mengenverhältnissen enthalten, als sie in der Natur normalerweise vorkommen. Reinhard Brandt, ehemaliger Professor für Kernchemie der Universität Marburg und Berater der Arge Pham, schließt daraus, dass die Kügelchen zuvor einem Laserstrahl oder einer „extrem starken Neutronenstrahlung“ ausgesetzt worden seien. Das könne mit PAC-Experimenten in der Forschungseinrichtung Geesthacht zusammenhängen.

„Die großflächige Verbreitung in der Elbmarsch kann ihre Ursache ausschließlich in einem unfallbedingten Ereignis haben – sei es ein Großbrand, eine Verpuffung, eine Explosion oder ähnliches“, heißt es in der Studie weiter. Der Normalbetrieb des Atomkraftwerks Krümmel wird als Ursache ausgeschlossen.

Die Gutachter bezeichnen ihre Indizienkette als das einzige belastbare Erklärungsmodell für die häufigen Leukämie-Erkrankungen bei Kindern in der Elbmarsch. Um die Erklärung dieser Erkrankungen und ihren möglichen Zusammenhang mit den Atombetrieben in der Elbmarsch tobt seit Jahren ein erbitterter Streit. Eine potenzielle Gefahr bleibt: Wenn die Atomkügelchen etwa durch den Pflug eines Bauern in die Luft gewirbelt würden, könnten sie sich in menschlichen Lungen ansammeln und dort gefährliche radioaktive Strahlung von sich geben.

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