DIE EU MUSS SICH ENTSCHEIDEN: WILL SIE DIE TÜRKEI WIRKLICH AUFNEHMEN?
: Der lange Weg nach Westen

Viele erregen sich dieser Tage über Israel und Arafat oder den Mord an Pim Fortyun. Das türkische Establishment hat seine eigene Krisenagenda. Der Generalstab in Ankara ist empört über seine französischen Kameraden. Der Pariser Botschafter wurde einbestellt, der Verteidigungsminister droht mit dem Abbruch aller militärischer Beziehungen. Warum das Ganze? Haben sich die Franzosen beim Spionieren in Ankara erwischen lassen?

Nichts dergleichen, es geht um ein Foto. Das Foto des türkischen Generalstabschefs Hüseyin Kivrikoglu klebt auf dem Boden der Pariser Metrostation Saint Lazar und tausende Franzosen trampeln ihm auf dem Kopf herum. Neben Kivrikoglu kleben Finstlerine wie Saddam Hussein und Kabila Junior. Denn diese Herren macht „Reporter ohne Grenzen“ für Zensur und Freiheitsberaubung von Journalisten verantwortlich.

Gewiss: Kivrikoglu ist kein Putschist, politisch hält er sich eher im Hintergrund. Doch wes Geistes Kind die türkischen Militärs sind, zeigte wie selbstverständlich sie vom französischen Militär erwarten, dass es diese die Schmähung Kivrikoglus unterbindet. So hätten sie es im umgekehrten Fall auch getan. Meinungsfreiheit? Nie gehört.

Die „Frankreich Krise“, wie die türkische Presse die Affäre titelt, zeigt das Verhältnis des EU-Kandidaten Türkei zu seinem angestrebten Club. Seit die Türkei 1999 nach jahrelangem antichambrieren endlich den Status eines Beitrittskandidaten erhielt, ist viel geschehen: Die Verfassung wurde geändert, das Land bekam ein neues Zivilrecht, das Strafprozessrecht wurde zugunsten der Angeklagten verändert, der Nationale Sicherheitsrat wurde auf ein Konsultationsgremium heruntergestuft. Doch Verfassung und Verfassungswirklichkeit klaffen noch weit auseinander.

Das am häufigsten genannte Beispiel für diese Kluft ist die Folter. Vor zwei Wochen hat das Anti-Folter-Komitee des Europarates einen Bericht dazu vorgelegt. Tenor: Es gibt leichte Fortschritte – aber in etlichen Polizeiwachen werden Häftlinge nach wie vor misshandelt. Es wird tatsächlich weniger gefoltert – aber nicht wegen neuer Gesetze, sondern weil die politische Gewalt zurückging.

Folter ist kein Problem der Gesetze, sondern von deren Anwendung. Kaum ein Staatsanwalt ist bereit, Foltervorwürfen nachzugehen. Selbst wenn es zur Anklage kommt, werden Polizisten fast nie verurteilt. Und wenn doch, dann wird die Verurteilung in den nächsten Instanz kassiert.

Kurzum: Folternde Polizisten haben wenig zu befürchten. Prügeln ist keine Ausnahme gegenüber verhassten politischen Gefangenen, sondern eine normale Ermittlungsmethode bei banalem Diebstahl. Folter schafft man deshalb nicht per Gesetz ab, sondern indem die Justiz durchgreift und die Ausbildung der Polizei verändert wird. Letztlich ist die Ächtung der Folter eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins. Solange ein großer Teil der Gesellschaft Prügel für normal hält, wird sie nicht verschwinden.

Die spannendste Frage im Verhältnis der EU zur Türkei ist, ob und wie man einen demokratischen Bewusstseinsprozess von außen beschleunigen kann. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist die Bundesrepublik. Die Voraussetzung für die Anpassung an den Westen nach 1945 aber waren Geld – nach dem Motto: Es lohnt sich – und das wohl verstandenen Eigeninteresse der westlichen Alliierten, die BRD im eigenen Boot haben zu wollen. Bonn konnte sich stets sicher sein, dass die Verwestlichung gewollt war. Für die Türkei trifft beides nur sehr bedingt zu. Geld kommt nicht und die Signale, ob man die Türkei wirklich in der EU dabeihaben will, sind zwiespältig.

Das Projekt Europa, das die Elite, zunächst des Osmanischen Reiches und später der Republik, seit rund 200 Jahren verfolgt, wird gerade jetzt, wo es konkret wird, grundsätzlich infrage gestellt. Eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft, die weit davon entfernt ist, mit Kritik souverän umzugehen, sieht sich – siehe Kivrikoglu – von der EU an den Pranger gestellt und reagiert paranoid.

Das Verhältnis EU/Türkei ist in diesem Jahr an einem entscheidenden Punkt. Offene Kritik ist richtig und wichtig, reicht aber nicht. Die EU muss zeigen, ob sie die Türkei wirklich will. Das geht nur mit einem Termin für die Beitrittsverhandlungen und echten Investitionen. Bislang ist die EU – für Elite und Volk in der Türkei – ein leeres Versprechen. JÜRGEN GOTTSCHLICH