: Gott hat eben kein Einsehen
Attentat gegen Wohlstand und Sicherheit: Uraufführung des Oratoriums „Bombsong“ von Thea Dorn in Hannover
Das Ende kommt unerwartet. Verunsichertes Räuspern. Wie enge Vertraute haben die Zuschauer im „ballhofeins“ in Hannover an Kindheitserinnerungen, Aggressionen und Wohlstandsekel einer jungen Frau Anteil genommen, bis plötzlich ihr Tag gekommen ist und sie sich mit ihrem roten Kinderkoffer frühmorgens im Zug in die Luft sprengt. Verhaltener Applaus. In den Köpfen fügen sich Vorzeichen wie Puzzlestücke zusammen. Auch im realen Geschehen sprengen sich immer wieder Selbstmordattentäter in unser Bewusstsein. Auch dann wollen wir rückblickend begreifen, was im Innern der Menschen vorgeht, die möglichst viele mit in den Tod reißen wollen.
Ulrike Haage und Thea Dorn haben in ihrem modernen Oratorium „Bombsong“, das am Sonntag in Hannover aufgeführt wurde, ein Psychogramm einer Selbstmordattentäterin entworfen. Thea Dorn wurde als Autorin von Kriminalromanen berühmt und berüchtigt, die philosophische und feministische Klischees mit genüsslich inszenierter Gewalt prügelten. Die Bühne sieht aus wie vor einem Kammerkonzert: ein Flügel, ein Cello, zwei weitere Mikrofone, zwei Mischpulte. „Schön ist es hier oben“, singt eine zarte Frauenstimme zur sanften Klaviermelodie der Ex-Rainbird-Musikerin Ulrike Haage, „dünn die Luft, aber gut.“ Der Text zeichnet die Züge einer Frau mit glücklicher Kindheit in Wohlstand und Sicherheit, ihr Inneres findet über zwei Stimmen Ausdruck. Eine harmonisch singende erinnert sich an die Zeit, als die Großmutter noch lebte. Sie hat noch Armut geschnuppert, zum Braten Rotkohl und Maggisauce gekocht und sich an besonderen Tagen mit 4711 beträufelt. Diese weiche Stimme singt vom Wunsch nach einer Zwillingsschwester, vom kleinen roten Koffer, den das Kind immer gepackt hat, mit Zahnbürste, Schlafanzug und Keksen.
Die zweite Stimme, kalt und unnahbar von Thea Dorn selbst gesprochen, erzählt zu schnellen Beats vom täglichen Ritual: Aufstehen um sieben, Fitnesstraining, ein Glas Wellnesswasser trinken und zwei Litschis essen – vielleicht kommt ja heute der Tag. Sie wird mit den anderen Fahrgästen im Zug sitzen und weiß: „Mein Fest kommt noch.“ Sie ist eine Schläferin, die auf den Einsatz wartet, zu dem sie selbst das Zeichen gibt. Sie hat Zeit zur Umkehr, „doch etwas Besseres als den Tod findest du nirgendwo“, behauptet die Stimme regungslos.
Auch diese Stimme erzählt von der Kindheit. Erbittert, zynisch, angeekelt. Das Mädchen hatte ein Vorbild, die Jungfrau von Orleans. Der Vater kauft ihr eine Rüstung, doch das Land war schon befreit. Die ganze Welt steht ihr offen, aber sie will Türen zum Eintreten. Sie hasst die undurchdringliche Sicherheit. Und sie erinnert sich an die erste U-Bahn-Fahrt: Da hat sie gelernt, alle Menschen zu hassen, dort hat sie die Bombe zum ersten Mal gesehen. Nervös zuckende Beats und einzelne Töne von Klavier und Cello zeigen die unterschwellige Aggression, die sich hinter der kalten Stimmwand verbirgt.
Diese Frau wird zur Attentäterin, gegen sich selbst, gegen die Demokratie, gegen die Engagierten, denn alle schönen Ziele sind schon erreicht. Auch Gott hat kein Einsehen, schickt weder Kriege, Katastrophen noch Diktaturen. Die kalte und die harmonische Stimme nähern sich, treten in Dialog, den ganzen Körper zieht es zu einem Ziel: Vielleicht braucht die Welt nur noch einen kleinen „Brandbeschleuniger“ – den kleinen roten Koffer.
Das Ende kommt unerwartet. Trotz der deutlichen Zeichen. Vielleicht, weil wir aus unserer Realität andere Motive kennen. Wir denken an religiöse Fanatiker, an politisch Unterdrückte, an wirtschaftlich Benachteiligte. Wir denken an islamische Terrororganisationen, den Nahost-Konflikt und den 11. September. Welche kulturelle Vision hat Thea Dorn zu diesem Psychogramm getrieben? Ist die Generation der jungen Erwachsenen eine, die sich Diktaturen und Kriege erfleht? Eine, die ihre Abneigung gegen zu viel Wohlstand und Sicherheit durch Attentate ausdrückt?
„Bombsong“ ist eine Auftragsarbeit und soll zur Positionsbestimmung in veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen beitragen. Dorn und Haage haben ein Thema getroffen, das unsere Zeit durch schmerzhafte Alltäglichkeit beschäftigt, aber die Ähnlichkeit mit realem Geschehen beschränkt sich auf Oberflächlichkeiten. Das Flehen nach Apokalypse ist keine Positionsbestimmung, sondern bestenfalls ausgeprägter Kulturpessimismus. Im Rückblick auf dieses Stück bleiben Unverständnis, Kopfschütteln und der Wunsch, Thea Dorn möge ein Psychogramm entworfen haben, das unseren gesellschaftlichen Verhältnissen möglichst fern ist.
SILKE LODE
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