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: Wird der Nahost-Konflikt zum Schwerpunkt des Filmfestivals?

Vorteil suchen und Leid zufügen

Die Ohren der Hunde der Wachschutzmänner, die am Gare Maritime vor den auf ihre Akkreditierung wartenden Journalisten auf und ab gehen, sind auf eine Weise kupiert, dass nur mehr eine Illusion von Ohr bleibt. Kleine Erhebungen von Haut rund um zwei Löcher im Kopf. Für die drallen, schwarzen Pitbulls ist das nicht eben vorteilhaft, für den martialischen Eindruck allerdings umso mehr.

Dass es absurd wäre, ein Festival auf eine Strömung, Tendenz oder gar ästhetische Linie reduzieren zu wollen, war gestern an dieser Stelle zu lesen. Trotzdem sei heute auf einen kleinen Schwerpunkt in der großen Vielfalt hingewiesen: Cannes erzählt in diesem Jahr unter anderem vom Nahost-Konflikt. Ein israelischer Regisseur, Amos Gitaï, und ein palästinensischer Regisseur, Elia Suleiman, sind im Programm des Wettbewerbs vertreten.

Gitaï hat mit „Kedma“ einen Film über Schoah-Überlebende gedreht, die Ende Mai 1948, wenige Tage vor der Gründung des Staates Israel, in Palästina ankommen. Kaum dass sie das Schiff verlassen haben (was britische Truppen zu verhindern suchen), werden sie von der jüdischen Armee mit Waffen ausgerüstet und in die Kampfhandlungen um die Straße nach Jerusalem verwickelt. Nicht wenige von ihnen kommen dabei um, ohne dass auch nur ihre Namen bekannt wären. Um das Drehbuch zu entwickeln, sagt Gitaï im Interview mit Cahiers du Cinema, hätten er und Marie-José Sanselme auf Aussagen von Krankenschwestern und Tagebuchnotizen zurückgreifen müssen, die sie in Kriegsarchiven fanden: „Das sind fürchterliche Zeugnisse.“

Suleiman siedelt seinen Film „Divine Intervention“ in der Gegenwart an. Im Mittelpunkt steht eine Liebesgeschichte zwischen einem in Jerusalem lebenden Palästinenser und einer in Ramallah lebenden Palästinenserin. Der einzige Ort, der ihnen für ihre Begegnungen zur Verfügung steht, ist der israelische Checkpoint, der zwischen den beiden Städten liegt. Über das Casting der Schauspieler, die die israelischen Soldaten verkörpern, hat Suleiman im Gespräch mit Libération erzählt: „Ich fragte jeden Kandidaten, ob er schon in der Armee gedient, ob er schon einmal einen Checkpoint überwacht, Ausweise überprüft, einen Palästinenser festgenommen habe.“ Für die israelischen Schauspieler ergab sich, so Suleiman, aus dieser Anordnung eine ambivalente Situation: „Um die Rolle zu erhalten, mussten sie sich dem Regisseur gegenüber in vorteilhaftes Licht rücken, was in diesem Fall hieß: Sie mussten Palästinensern Leid zugefügt haben. Und dann ist es aber so, dass der Regisseur selbst Palästinenser ist!“

Am Abend übrigens ragen Lichtsäulen in den wolkenverhangenen Himmel, hervorgebracht von einer Scheinwerferkette an der Croisette. Blickt man nach oben, auf diese natürliche Leinwand, sieht es aus, als stünde eine Heiligenerscheinung bevor. Vermutlich ist dies ein Teil der Faszination, die das Kino ausübt: dass es Offenbarungen verspricht.

CRISTINA NORD