: Wie die Kirche zum Grab wurde...
vom Atratofluss und aus Bogotá INGO MALCHER
Immer wieder inhaliert sie den Duft der Flasche. Marlen Barbosa sitzt erschöpft unter einem Busch im Schatten und riecht an purem Alkohol. Es ist heiß und schwül und sie ist erschöpft. Die 32-Jährige kann nicht mehr. Sie zieht das Alkoholaroma durch die Nase, lässt es durch die Atemwege wandern, bis es in der Lunge ankommt. Sie will sich von innen desinfizieren und den schrecklich süßen Leichengeruch aus ihrer Nase kriegen. Diesen Geruch, der in der Luft liegt und im verschwitzten Gesicht kleben bleibt, sich an den Armen und Händen festsetzt. Bis vor wenigen Minuten hat sie noch an dem ausgehobenen Grab unter den Bäumen gekniet, hat versucht die dort verscharrten Toten zu identifizieren.
„Man muss durchhalten, man muss sich zwingen, aber in den Pausen liegt man im Gras und es ist einem schwindlig, irgendwann geht es nicht mehr“, sagt Marlen Barbosa. Sie gehört zur Einheit der Staatsanwälte, die die kolumbianische Regierung in den Ort Bellavista am Atratofluss geschickt hat, um die Leichen zu identifizieren. Elf Menschen liegen in der Grube am Ufer des Atratoflusses begraben. Sie sind die Opfer des schlimmsten Ereignisses des kolumbianischen Bürgerkriegs der vergangenen Jahre. Am 2. Mai feuerten die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) eine mit Sprengstoff und Eisenfedern gespickte Gasflasche auf die Kirche in Bellavista, als sie versuchten, den Ort von den rechten paramilitärischen Einheiten zurückzuerobern. 119 Menschen starben, darunter 44 Kinder.
Flucht im Kugelhagel
Die Regierung in Bogotá stellt es als Verbrechen der Farc dar. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Das Massaker wäre vermeidbar gewesen, wenn der Staat die Dörfer am Atratofluss nicht im Stich gelassen und wenn die Armee das Paramilitär nicht gewähren lassen hätte.
José Vásquez* sitzt neben der Eingangstür eines Holzhauses im Nachbarort La Vigía del Fuerte und hält seinen weißen Hut in der Hand. Seine kräftigen, mit Hornhaut überzogenen Finger spielen mit seinem weißen Hut. Der 67-Jährige hat wache Augen, eine Glatze und einen grauen Stoppelbart. Vásquez wohnte noch bis vor zehn Tagen in seinem Haus am Ortsrand von Bellavista. Als die Gasflasche in der Kirche explodierte, ist er mit seiner Frau, den Kindern und zwei Hühnern im Kugelhagel zum Flussufer gerannt. Mit dem Kanu sind sie auf die andere Seite des Flusses nach Vigía del Fuerte gerudert und fanden bei Freunden Unterschlupf. Er sagt: „Einen Tag vor dem Guerilla-Angriff haben wir den Vertretern des Paramilitärs gesagt, dass wir sie nicht im Ort haben wollen, dann ist passiert, was passiert ist.“
Die verspätete Armee
Die Fahrt über den Atrotofluss von Vigía del Fuerte, wohin sich Vásquez geflüchtet hat, nach Bellavista dauert mit einem motorisierten Kanu 20 Minuten. Es geht vorbei an einsamen Holzhütten, bedeckt mit getrocknetem Schilfgras. Die Menschen am Atratofluss sind Campesinos, sie bauen Yucca an und Bananen. Aber seit der Krieg die Gegend erreicht hat, können sie ihre Produkte nicht mehr verkaufen, weil der Fluss zu unsicher geworden ist für den Transport. Seitdem gibt es Hunger in Bellavista und Vigía del Fuerte. Das Rote Kreuz und die Diözese in Quibdó, der nächsten größeren Stadt, schicken Lebensmittel.
An einer der Hütten entlang des Flusses hat die Guerilla ihre Marke hinterlassen. Mit schwarzer Farbe wurde „FARC“ an die Holzwand geschrieben. Aber die Farc ist verschwunden. Vorerst. In Bellavista liegt ein Kriegsschiff der Armee vor Anker. Auf der Brücke erinnern Einschusslöcher an die Gefechte, die sich die Armee mit der Farc geliefert hat. Erst sieben Tage nach dem Massaker traute sich die Armee in die Region. Jetzt sitzen gelangweilte Soldaten in Bellavista vor den leeren Häusern, sie saugen an Wasserflaschen und polieren ihre Schnellfeuergewehre.
Von der Kirche im Ortskern sind nur die Grundmauern übrig geblieben. Der Dachstuhl ist ein einsames Metallgerüst, auf dem Steinboden liegen Hemden und Schuhe, Splitter der explodierten Gasflasche und Metallnägel. An der Stelle, wo einst der Altar stand, ist ein Explosionskrater zu sehen. Davor liegt eine Jesusfigur ohne Arme und Beine auf dem Boden.
Kein Einwohner ist nach den Gefechten im Ort geblieben. An der Türe des leeren Krankenhauses klebt ein Schild: „Eintritt mit Waffen verboten.“ Bahren stehen im Gang, darauf liegen Teller mit Spritzen und Verbandsmull. Der Boden der Notaufnahme ist mit getrocknetem Blut bedeckt, darin kleben schwarze Müllsäcke. Als die Gasflasche in der Kirche explodierte, fehlte alles. Ärzte, Medikamente, Verbandsmaterial. Viele Menschen starben im Krankenhaus, weil sie nicht behandelt werden konnten. Die Schule neben der Kirche ist übersät von Einschusslöchern. Auf dem Platz davor steht ein Schild: „Bellavista – zusammen konstruieren wir die Zukunft.“
Das war die Zeit, als der kolumbianische Bürgerkrieg noch weit weg schien. Aber vor sechs Jahren wurden die Dörfer Bellavista und Vigía del Fuerte umkämpftes Gebiet. Guerilla und Paramilitär streiten sich seitdem um die Vorherrschaft, weil über den Atratofluss Waffen ins Land kommen und Drogen ausgeführt werden. Am 22. Mai 1997 marschierte das Paramilitär in Vigía del Fuerte ein. Die Polizei schaute von ihrer Wache am Hafen aus dabei zu, wie die Milizen den Ort in ihre Gewalt brachten.
Von der Karte gestrichen
Die Anwesenheit des Paramilitärs forderte die Guerilla heraus. Im Frühjahr 2000 schlug die Farc zu. Sie zerstörte die Polizeistation und tötete 21 Polizisten. Auf der anderen Flussseite in Bellavista mussten sich die Polizisten ergeben, weil sie keine Munition mehr hatten. Von da an hatte die Guerilla das Sagen, der Staat hat die Dörfer praktisch von der Karte gestrichen.
Daher hatte das Paramilitär leichtes Spiel, als sie vor gut einem Monat zurückkehrten und Bellavista einnahmen. Hilferufe aus dem Ort verhallten im fernen Bogotá ungehört. Schließlich schlug die Farc am 1. Mai zurück und startete eine Offensive, um Bellavista zurückzuerobern. In der Zahl der Kämpfer und Feuerkraft unterlegen, benutzte das Paramilitär die Zivilbevölkerung als Schutzschild. „Das Paramilitär hatte sich rund um die Kirche verschanzt, wohin sich die Leute geflüchtet hatten, und schoss von dort auf die Guerilla“, berichtet Javier Ribera*, der das Massaker in der Kirche überlebte. Das Paramilitär versuchte, in die Kirche einzudringen, was die Priester aber verhinderten. Am nächsten Tag feuerte die Farc vom Stadtrand aus drei Gasflaschen auf die Stellungen des Paramilitärs. Die letzte traf die Kirche.
In der Hauptstadt Bogotá sind Diplomaten überzeugt, dass die Ereignisse vorhersehbar waren und hätten verhindert werden können. Demnach warnte die Diözese in Quibdó seit einem Jahr die Behörden, dass eine Paramilitäroffensive bevorstehe. Und am 25. März habe ein Diplomat dem Oberkommando der Streitkräfte in Bogotá berichtet, dass mindestens sieben Boote des Paramilitärs mit jeweils 30 bis 40 Kämpfern den Atrato flussaufwärts in Richtung Bellavista und Vigía del Fuerte unterwegs seien. „Wir haben nichts gesehen“, sei die knappe Antwort gewesen.
Dabei müssen die Boote den bestens ausgerüsteten Kontrollposten der Armee nahe der Ortschaft Ríosucio passiert haben – es gibt keinen anderen Weg nach Bellavista und Vigía del Fuerte. Die Armee jener Regierung, die jetzt Staatsanwältinnen wie Marlen Barbosa zur Identifizierung der Opfer nach Bellavista schickt, muss zugesehen haben, wie das Paramilitär in die Gegend vorrückte und sich damit der neue Gewaltausbruch anbahnte.
Vor wenigen Tagen hat die Armee dann Bellavista und Vigía del Fuerte wieder unter ihre Kontrolle gebracht. José Vásquez ruderte mit dem Kanu auf die andere Flussseite und wollte zurückkehren. Er fand sein Haus verwüstet. Der Boden war blutverschmiert, weil während der Kämpfe dort Verletzte untergebracht wurden. Aus den Schränken waren Bettlaken herausgerissen worden, es fehlten Hemden und Hosen. Auch der Goldschmuck seiner Frau war gestohlen worden.
Die größte Überraschung für José Vásquez aber war, dass mit den Soldaten auch die von der Guerilla vertriebenen paramilitärischen Einheiten zurückkamen. Sie hatten ihre olivgrünen Uniformen ausgezogen und sich die Kleider der geflüchteten Bewohner angezogen, die sie in den Häusern fanden, um nicht erkannt zu werden. Auch in Vigía del Fuerte sind die Mitglieder des Paramilitärs in Zivil mit der Armee zurückgekommen. Der ehemalige Polizeichef des Ortes, einst wegen Unregelmäßigkeiten im Dienst entlassen und heute ein bekannter Paramilitär, spaziert neben den Soldaten die Straßen entlang.
Aus der Kameradschaft zwischen Armee und Paramilitär macht Oberst Hernán Pulido, Chef der am Atrato stationierten Truppe, keinen Hehl. Er steht am Eingang des ehemaligen Rathauses von Vigía del Fuerte, das die Armee als Quartier benutzt. Pulido sagt: „Wir haben sehr gute Beziehungen zu den paramilitärischen Einheiten.“ Der Oberst traut niemandem im Ort. Jeder könnte ein Guerillero sein. Pulido ist seit 20 Jahren Soldat, er kennt nur Gut oder Böse – keine Zivilisten.
Panikartig verlassen daher viele Menschen Vigía del Fuerte. Sie misstrauen der Armee, fürchten das Paramilitär und wissen, dass die Guerilla ein Ultimatum an die Soldaten gestellt hat, Vigía del Fuerte zu verlassen. Im Hafen beladen sie die langen, schmalen Boote mit ihren wenigen Habseligkeiten und machen sich flussaufwärts auf den Weg nach Quibdó. Die schwachen Motoren bringen die schwer beladenen Boote kaum vom Fleck. Fast 20 Stunden brauchen sie, wenn alles gut geht. Auf dem Weg kann die Guerilla lauern, oder das Paramilitär. Niemand weiß das genau, bevor er an Bord geht. Bislang sind in Quibdó etwa 2.000 Kriegsflüchtlinge angekommen, dabei leben in der Gegend um Vigía del Fuerte 14.000 Menschen.
Auch José Vásquez geht. Am nächsten Morgen schleppt er auf seiner Schulter einen Sack mit Lebensmitteln zum Hafen. Die Last drückt auf seine Knochen und er läuft gebückt, sein Hut klemmt zwischen zwei Fingern. Seine Frau ist nicht zum Hafen gekommen, nur sein Sohn. Vásquez sagt bloß: „Wir sehen uns.“ Er winkt ihm nicht, er guckt nur starr. Das Boot legt ab, kämpft sich langsam stromaufwärts. Vorbei an Bellavista, dem Ort, in dem er bis vor zwei Wochen gelebt hat.
* Die Namen wurden auf Wunsch geändert, da die Personen wegen ihrer Aussagen Repressalien fürchten.
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