Staatsziel Tierschutz

So genannte Haustiere werden vom Menschen innig gehätschelt, Tiere in Stall und Labor bestialisch gequält. Nun wird der Tierschutz im Grundgesetz festgeschrieben – zweifellos ein Fortschritt. Doch das Machtverhältnis zwischen Menschen und Tieren bleibt weiter bestehen

von ANNETTE JENSEN und UTE SCHEUB

Kaum waren die Affen geboren, nähte der Berliner Hirnforscher ihnen ein Auge zu. Er bohrte Schrauben in ihren Schädel und klemmte die Tiere in einen Apparat ein, sodass sie sich nicht mehr rühren konnten. Stundenlang wanderte ein Lichtstrahl hin und zurück, hin und zurück. Immer und immer wieder. Währenddessen maß der Wissenschaftler die Gehirnströme der Tiere. Einen unmittelbaren Nutzen des Experiments konnte er nicht benennen. Grundlagenforschung eben.

Die Berliner Gesundheitsbehörde wollte das Experiment aus ethischen Gründen verbieten, doch der Wissenschaftler zog vor Gericht – und gewann. Da der Tierschutz im Unterschied zur Freiheit der Wissenschaft nicht im Grundgesetz stehe, urteilte das Bundesverfassungsgericht 1994 in letzter Instanz, habe die Forschungsfreiheit den Vorrang. Jetzt aber, nach der Änderung des Grundgesetzes, ist auch der Tierschutz Staatsziel und müsste in einem gleichartigen Prozess gegen die Wissenschaftsfreiheit abgewogen werden. „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“, heißt es im veränderten Artikel 20 a.

Die CDU/CSU hatte mit Rücksicht auf starke Lobbygruppen in der Landwirtschaft, Industrie und Forschung jahrelang eine Verfassungsänderung blockiert, doch nun stimmte die Bundestagsfraktion endlich zu. Kanzlerkandidat Edmund Stoiber begründete den Sinneswandel mit den Protesten gegen das „Schächturteil“ des Bundesverfassungsgerichts. Die Richter hatten im Januar das Schlachten von Tieren aus religiösen Gründen ohne Betäubung genehmigt – wieder unterlag der Tierschutz einem anderen Grundrecht, diesmal der Religionsfreiheit.

Zwar mag beim christdemokratischen Sinneswandel auch Misstrauen gegen fremde Sitten, zumal muslimische, eine Rolle gespielt haben. Doch vor allem hätte sich die Union gegen eine deutliche Bevölkerungsmehrheit stellen müssen: 79 Prozent der Bundesbürger befürworteten in Umfragen ein „Staatsziel Tierschutz“. Die Massentötung von Rindern nach dem BSE-Skandal und die brennenden Scheiterhaufen aus Tierkadavern nach dem Ausbruch der Maul- und Klauenseuche hatten viele Menschen abgestoßen: Nein, so grausam wollen wir nicht sein. Der Wunsch nach einer Grundgesetzänderung ist Ausdruck eines etwas größeren Verantwortungsbewusstseins gegenüber den Tieren.

Zugleich hat der Fleischkonsum inzwischen wieder fast das Niveau vor dem BSE-Skandal erreicht. Für den Einwohner eines Industrielandes sind am Ende seines Lebens durchschnittlich 649 Nutztiere gestorben. 600 Hühner + 22 Schweine + 20 Schafe + 7 Rinder = 1 Mensch der Wohlstandsgesellschaft, hat ein britischer Wissenschaftler errechnet. Fleisch steht für Wohlstand und ist ein traditionelles Statussymbol vor allem für Männer („eine Extraportion für Vati“). In Westeuropa lassen jährlich an die zweihundert Millionen Tiere – Geflügel und Fische nicht mitgerechnet – ihr Leben. Ein Viertel davon übrigens unbetäubt – nicht aus religiösen Gründen, sondern weil die Technik versagt oder die Schlachter schlampig arbeiten.

Noch schlimmer als der Tod der Tiere ist allerdings ihr Leben. „Konventionell hergestellte“ Schweine zum Beispiel werden in winzige Boxen gepfercht: Wer sich wenig bewegt, nimmt schneller zu. Die Muttersauen haben auf dem nackten Betonboden ihres Einzelverschlags keinerlei Möglichkeiten, ein Lager für ihre Ferkel zu bauen. Ein Gurt fixiert sie am Boden; so können sie sich weder umdrehen noch auf der Seite ruhen. Die Sonne sieht ein normales Schwein in der Regel nie – höchstens auf dem Weg zum Schlachthof.

Trotz der „Agrarwende“ der grünen Verbraucherschutzministerin Renate Künast werde die Massentierhaltung bei Schweinen, Enten und Puten stetig ausgeweitet, kritisiert der Bund für Umweltschutz und Natur Deutschland (BUND). Im vergangenen Jahr wurden die Kapazitäten dieser Agrarfabriken um bis zu 26 Prozent vergrößert. Einzig die 36 Millionen deutschen Hennen sehen ein bisschen Licht am Ende ihres Käfigs. Die im März in Kraft getretene neue Legehennenverordnung verbietet den Bau neuer Hühnerknäste, die kleiner als ein DIN-A 4-Blatt pro Huhn sind, und schreibt den Umbau der bestehenden bis Ende 2006 vor.

„Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“: Während mit solchen Slogans aggressiv für höheren Fleischkonsum geworben wird, tragen Schlachthöfe oft nicht einmal ein Hinweisschild. Die Fleischindustrie weiß: Kein Verbraucher will daran erinnert werden, dass sein Kaufverhalten auf blutigen Voraussetzungen basiert. Der Tod der Tiere ist tabu, weil wir keine gefühllosen Wesen sein wollen. Norbert Elias schildert in seinem „Prozess der Zivilisation“ die zunehmende Tabuisierung: Früher wurden Tiere mit Kopf und Schwanz und Füßen serviert, heute erregt so etwas Ekel, denn der moderne Mensch will nicht an seine Aggressivität erinnert werden.

Auch der Tod von Versuchstieren geschieht im Verborgenen. 2001 betrug die Zahl der deutschlandweit getöteten Tiere 1,9 Millionen. Ob mit Grundgesetzänderung oder ohne: Tierversuche sind für die Prüfung von Arzneimitteln, Lackfarben und Kosmetika verbindlich vorgeschrieben und bedürfen größtenteils keiner Extragenehmigung. EU-weit sollen demnächst für ein Chemikalien-Testprogramm mindestens zwölf Millionen Versuchstiere dran glauben, vor allem Mäuse, Ratten, aber auch Kaninchen, Hunde und Affen.

Getestet werden sollen dreißigtausend Substanzen wie Schmieröl, Textilfarben, Pestizide und Holzschutzmitttel – hierbei handelt es sich insbesondere um Chemikalien, die vor 1981 auf den Markt gekommen sind und nicht im heute gültigen EU-Maßstab an Tieren getestet wurden. Die Experimente seien nicht nur grausam, sondern auch ohne Aussagekraft für den menschlichen Organismus, kritisieren Tierschützer.

Trotz alledem halten sich die Deutschen für enorm tierlieb. In einer Untersuchung aus den Siebzigerjahren nahmen 82 Prozent der befragten Bundesbürger diese Haltung für sich in Anspruch. Tierquälerei gelte hierzulande als „besonders schlimmes Verbrechen“, schreibt der Soziologieprofessor Heinz Meyer im Sammelband „Mensch und Tier in der Geschichte Europas“, „strafwürdiger als Kindesmisshandlung und Prügel für die Ehefrau“.

Der gewöhnliche Stadtmensch, allen natürlichen Umgangs mit Tieren beraubt, sehnt sich nach anderen lebendigen Kreaturen. In jedem dritten Haushalt lebt mittlerweile mindestens ein Tier. Ein lukrativer Markt: Für Kauf, Futter und Unterhalt von etwa 22 Millionen Katzen, Ziervögeln, Hunden und Meerschweinchen sowie zirka 85 Millionen Zierfischen gaben die Deutschen im vergangenem Jahr rund 2,7 Milliarden Euro aus. Das beliebteste Heimtier ist die Katze (6,5 Millionen), gleich gefolgt vom Hund (4,7 Millionen).

Diese so genannte Tierliebe ist die Kehrseite der Massentierhaltung und -vernichtung. Der Vermenschlichung der Möpse und Miezen steht die Verdinglichung im Stall gegenüber. Und wie die Brutalität ist auch die Sentimentalität Ausdruck von Egoismus und Machtanspruch der Menschen. Der Papagei, der im engen Käfig von einem Bein aufs andere tritt und abgeschnitten von seinen Artgenossen menschliche Laute nachahmt, erfreut den Menschen. Dass der Vogel sich dort wohler fühlen würde, wo er herkommt, verdrängt der stolze Besitzer. Überfütterte Katzen, von Kinderhänden gequälte Hamster, in Wollleibchen schwitzende Pudel – sie alle sind Opfer menschlicher Bedürfnisse.

In den USA lässt sich die Tendenz zur Verkitschung noch deutlicher ablesen. Ein Washingtoner Anwalt baute seinem querschnittsgelähmten Schäferhund einen Rollstuhl, und ein anonymer Hundebesitzer zahlte einer Universität 3,7 Millionen Dollar für das – bisher missglückte – Klonen seiner Collie-Husky-Mischung „Missy“. Es gibt Antistress-CDs für Hamster und Backbücher für alle Arten von Hundekuchen. Der Nebeneffekt ist ein dicker Hund: 25 bis vierzig Prozent aller US-Hunde sind zu fett.

Welches Tier verhätschelt und welches gequält wird, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Inder wenden sich mit Grausen, wenn wir ihre heiligen Kühe schlachten. Unsereins ekelt es vor den gegarten Hunden in den Kochtöpfen von Chinesen und Koreanern.

Diese kulturellen Unterschiede erklären sich zum Teil durch die Religionen. Während es im Judentum, Christentum und Islam eine starke Tradition gibt, die Mitgeschöpfe als Sachen ohne Würde und Seele zu behandeln, bringt der Buddhismus Tieren mehr Respekt entgegen. Zwar gilt auch dort der Mensch als das am höchsten entwickelte Lebewesen. „Doch buddhistische Mönche nehmen ihre Selbstverpflichtung, keine Tiere zu töten, sehr ernst“, berichtet die Historikerin Ursula Fuhrich-Grubert, die an der Freien Universität Berlin das komplexe Mensch-Tier-Verhältnis untersucht.

„Herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht“, heißt es hingegen in der alttestamentarischen Genesis. Auch in der Welt der Kirchenväter war kein Platz für Erbarmen mit dem leidensfähigen Geschöpf, zumal das römische Recht Tiere bloß als Sache und Eigentum der Menschen definierte. Luther befand ebenfalls, Gott habe es so angeordnet, „dass immer eine Kreatur der anderen dienen soll“.

Obwohl die christlichen Überzeugungen dahinschwinden, geht der westliche Mensch weiter davon aus, dass er sich grundsätzlich vom Tier unterscheidet. Die Aufklärer machten die menschliche Vernunft zum neuen Heiligtum. Für Descartes funktionierten Tiere quasi mechanisch. Und Kant erklärte die „vernunftlosen Tiere“ zu „Sachen“, mit denen man „nach Belieben schalten und walten kann“.

Dabei stellt der Erkenntniszuwachs in der modernen Biologie die grundsätzliche Differenz zwischen Mensch und Tier immer mehr in Frage. Darwin schrieb schon 1871: „Wir haben gesehen, dass die Empfindungen und Fähigkeiten, wie Liebe, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Neugier, Verstand, deren sich der Mensch rühmt, in einem beginnenden und zuweilen sogar einem gut entwickelten Zustand bei den Tieren gefunden werden.“ Aus der Perspektive der Evolution ist der Mensch nicht mehr Krone der Schöpfung, sondern Durchgangsstadium. Vielleicht hat diese schockierende Erkenntnis dazu geführt, dass der Mensch seine Unterschiedlichkeit zum Tier umso nachdrücklicher manifestieren will. Jedenfalls gilt heute mehr denn je: Der Mensch macht sich die Erde untertan.

Das drückt sich auch im deutschen Tierschutzrecht aus. „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“, lautet der Leitsatz. Ohne „vernünftigen Grund“ – dieser Gummibegriff der Aufklärung erlaubt den Menschen fast alles. Obwohl fast jede dritte Brieftaube bei Wettfernflügen ihr Leben lässt, ist diese „Sportart“ keineswegs verboten. Offenbar ist es in unserer Kultur auch „vernünftig“, Pferde über hohe Hindernisse zu treiben – während ein in Berlin veranstalteter Wettlauf von Elefanten wochenlang Protest wegen „Tierquälerei“ hervorrief.

Je ferner von uns Tiere leben, je größer sie sind, desto schützenswerter erscheinen sie. Kaum ein Tier erfreut sich höherer Sympathiewerte als Wal und Elefant. Doch während die Tiere der afrikanischen Savanne als von bösen Eingeborenen bedroht erscheinen, gelten die wenigen noch nicht ausgerotteten Wildtierarten bei uns als dringend regulierungsbedürftig. Gewiss, unsere Perspektive auf Tiere kann nicht anders als menschlich sein. Doch wie könnte ein angemessener, respektvoller Umgang mit ihnen aussehen?

Vor allem sollten wir sie in Ruhe lassen. Wir haben zu akzeptieren, dass Tiere nicht für menschliche Bedürfnisse leben, sondern für sich selbst. Das aber beinhaltet die Aufforderung, unsere Lebensweise grundsätzlich zu ändern. Wer nicht wirklich muss, zum Beispiel weil er oder sie einen Blindenhund braucht, der sollte sich in einer Stadtwohnung kein Haustier halten.

Und: Fleischverzicht macht nicht nur gesünder, sondern auch schöner. Vegetarier haben weniger Falten, fanden australische Ernährungswissenschaftler kürzlich heraus. Die Reduzierung des deutschen Fleischkonsums um ein Drittel würde übrigens auch der Umwelt gesunden helfen, hat Hartmut Vogtmann, der Präsident des Bundesamtes für Naturschutz, errechnet. Wenn Weiden zu Feldern würden, reiche die Fläche aus, um die Bevölkerung Deutschlands komplett mit Ökoprodukten versorgen zu können.

UTE SCHEUB, 46, und ANNETTE JENSEN, 40, leben als freie Journalistinnen in Berlin