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Der „Pisa“-Schock als Glücksfall

■ Kitas sollen mehr als Kinder nur verwahren. Man muss aber nicht nach Finnland fahren, um zu erkennen, was an dem deutschen System zu reformieren wäre. Die taz sprach mit einer Expertin

Nach dem „Pisa“-Schock entdecken Politiker den Kindergarten. In den letzten Jahren stand der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz im Vordergrund der Diskussion, der als Kompensation zum § 218 eingeführt wurde. „Eine der wichtigsten Aufgaben von Kindergärten ist die sprachliche Sozialisation“, sagt der Freiburger Pädagogik-Professor Norbert Huppertz und erinnert daran, dass in den ers-ten Lebensjahren die Weichen gestellt werden: „Wenn sie fünf Jahre alt sind, ist entwicklungspsychologisch der Koffer gepackt, der Rest sind dann nur noch Verfeinerungen.“ Aber nur ein Drittel der Kitas machten gute Arbeit, hat der Kleinkindpädagoge Professor Wolfgang Tietze (FU Berlin) in einer Untersuchung für das Familienministerium herausgefunden. Hella Wesseler-Kühl ist seit Jahren Leiterin einer Bremer Kita, die in der Qualitätskontrolle von Tietze sehr gut abgeschnitten hat. Die taz sprach mit ihr über Pisa und mögliche Folgen für die Elementar-Pädagogik.

taz: Im letzten Herbst gab es in Bremen einen politischen Streit – aber nicht um die pädagogischen Ziele der Kita-Arbeit, sondern um die Finanzierungsmodelle. „Kernzeit“ für alle kostenlos, jedes „Plus“ ein Luxus, für den die Eltern ordentlich zahlen sollten. Macht das Sinn?

Hella Wesseler-Kühl: Das Modell „Kernzeit-plus“ sollte eine Umverteilung bringen. In der Kernzeit, drei Stunden am Vormittag, sollten zwei ausgebildete Erzieher in der Gruppe sein. Das ist sinnvoll. Das Problem war: Die Reform sollte finanziell neutral sein, bei den Integrationshilfen sollte das Geld gespart werden. Das wäre eine richtige Verschlechterung gewesen, deswegen wurde das Modell gekippt. Wir hoffen im Moment, dass in der Folge von Pisa was passiert.

Pisa als Glücksfall?

Ja.

Was soll denn passieren?

Wir haben in Bremen den schlechtesten Standard, wir sind mit Mecklenburg-Vorpommern das Schlusslicht bundesweit: Eine Erzieherin soll für eine Gruppe von 20 Kindern verantwortlich sein. Das ist allerunterste Grenze.

Reichen drei Stunden „Kernzeit“ mit zwei Kräften, um die Erziehungsdefizite in den Familien aufzufangen?

Nein. Wir brauchen fünf Stunden. Denn wenn eine Erzieherin in einer Gruppe mit 20 Kindern allein ist, kann sie sich zum Beispiel um Sprachdefizite nicht besonders kümmern.

Im Saarland ist der Kindergarten Zuständigkeitsbereich des Bildungsressorts und kostenfrei wie die Schule. Sollten die Kinder im Kindergarten auch ein bisschen Mathe lernen, ein paar englische Vokabeln?

Wenn es einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz gibt, dann muss der kostenlos sein. Aber wir wollen nicht Schule vorwegnehmen. Kindheit ist ein ganz eigenständiger Bereich. Kinder lernen da zum Beispiel, mit Umbrüchen klarzukommen. Ein guter Kindergarten stärkt das Selbstwertgefühl der Kinder, macht sie dialogfähig.

Jetzt lernen die Kinder Englisch in Ihrem Kindergarten. Das ist kein Vorziehen der Schule?

Nein. Sie lernen ja auch die deutsche Sprache. Wir müssen das Potenzial, das Kinder in diesem Alter haben, nutzen. Wir machen das seit zwei Jahren mit Erfolg, und die Eltern wollen das auch, sie müssen extra bezahlen dafür.

Warum finanziert die Sozialbehörde das nicht für alle?

Daran wird gespart.

Wie viele Fachleute von außen braucht ein Kindergarten?

Englisch wird finanziert von den Eltern. Sprachtherapie. Behindertenpädagogik und Krankengym-nastik haben wir nur, weil wir eine Integrationseinrichtung sind. Jeder Kindergarten müsste eine Sprachtherapeutin im Haus haben, weil der Bedarf so groß ist. Es wäre toll, eine Fachfrau für Bewegung zu haben oder mal einen Theater-Menschen, der mit den Kindern arbeitet. Für solche Angebote von außen bräuchte man finanzielle Mittel.

Kinder sollen früher in die Schule, sagen die Bildungspolitiker.

In unseren Grundschulen sind die Klassen zu groß, die Kinder sind auf einem sehr unterschiedlichen Entwicklungsniveau und man konfrontiert alle mit genau demselben Lernstoff. Das kann nicht gut gehen. Je selbstbewusster wir unsere Kinder in die Schule geben, desto geringer ist das Risiko, dass sie da untergehen.

Es gibt in Bremen eine Grundschule, die arbeitet mit altersgemischten Gruppen und geht stärker auf die Unterschiedlichkeiten ein.

In Grambke, ja. Mit gutem Erfolg, soweit ich weiß. Die haben Vorschulkinder, also 5-Jährige und 6- und 7-Jährige in einer Gruppe. Da ist nicht der Lehrplan der Maßstab, sondern der Lernfortschritt und der Bedarf des einzelnen Kindes. Aber in den Grundschulen werden die Lehrer-Kapazitäten für das „Fördern“ immer mehr weggestrichen.

Fragen: K. Wolschner

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