: Geliebter Kotzbrocken
„Brüssel/Die Feuerstellung“: Zwei frühe Fragmente von Arno Schmidt sind erschienen – auch eine gute Gelegenheit zur selbstkritischen Hinterfragung
von KURT SCHEEL
Es ist eine zwiespältige Reise in die eigene Vergangenheit, diese Lektüre früher Texte von Arno Schmidt: „Brüssel/Die Feuerstellung“ präsentiert zwei Fragmente in edler Aufmachung, nämlich die Faksimiles von gut zwanzig Seiten handschriftlichem Text und einem halben Hundert Notizzettel – dass die Umschrift diplomatisch genau erfolgt, ist nicht übertrieben und freut außer den Schmidt-Fans, die naturgemäß ein bisschen verrückt sind, auch den alternden Roué. Es ist lehrreich zu sehen, wie souverän der angehende Autor seinen Text bearbeitet, verbessert und zumeist: abkühlt. So wird zum Beispiel aus einem „herzlichen“ Nicken des Protagonisten ein „tief überzeugtes“, mehr ist bei diesem Misanthropen einfach nicht drin.
„Brüssel“ ist 1948 entstanden und spielt in einem belgischen Gefangenenlager: deutsche Soldaten in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. „Die Feuerstellung“ aus dem Jahr 1955 schildert den Beginn eines Atomkriegs, ein versprengter Trupp Soldaten wird von der radioaktiven Strahlung langsam dahingerafft. Die Erzählweise erinnert an den „Leviathan“, und schon in dem frühen Fragment ist der ganze Schmidt enthalten: der besserwisserische Held und Erzähler, in dem wir ruhig das Alter Ego des Autors sehen dürfen; die Gespräche über Gott, die Welt und vor allem die Literatur, wo steile Thesen und bizarre Urteile über berühmte und weniger berühmte Schriftsteller apodiktisch verkündet werden; die Menschenverachtung – entweder sind die anderen dumm oder böse, oder sie stinken, es reicht aber schon, dass sie einfach da sind, um den Widerwillen des Erzählers auf sich zu ziehen: „Wenn ich nur mal 20 Jahre keine Menschen mehr zu sehen brauchte!“ In der Situation eines Gefangenenlagers ist das eine durchaus verständliche Sichtweise, doch es bleibt von Anfang bis Ende das Credo aller schmidtscher Helden und wohl auch ihres Schöpfers.
Und solche Typen waren dir vor vierzig Jahren, als du Schmidt zu lesen begannst, nicht zuwider? Sie haben dich fasziniert, du hast dich mit ihnen sogar identifiziert?! Äußerst merkwürdig, würde Schmidt sagen und die Brille abnehmen: sehr peinlich. Doch dies Geständnis, verehrte Leserinnen und Leser, soll nicht nur meinen menschlich-moralischen Fortschritt und meine bis zur Selbstentblößung gehende Wahrheitsliebe belegen, sondern vor allem ein Licht auf Schmidts Kunst werfen: Gab es im 20. Jahrhundert einen anderen deutschen Schriftsteller, der das Kotzbrockige seiner Helden mit solcher Genauigkeit, Empfindlichkeit und Wortgewalt zur Sprache brachte und sie damit erst erträglich oder gar faszinierend machte und nebenbei auch die übrige Welt?
Wer selber gelegentlich eine Anlage zum Besserwisser und Dünkelmann in sich spürt, wer also allzumal ein Sünder ist, der erkennt sich bei Schmidt und in Schmidt wieder, diesem Kotzbrockenmonument, vielleicht dem größten deutscher Zunge nach 1945. Ganz sicher aber war Schmidt der Sprachmächtigste seiner Zeit. Und so hat er sich und uns genauestens und ingrimmig porträtiert, in unserer Wirklichkeit und in unseren Gedankenspielen; nicht ohne Sympathie, aber ohne Rabatt. Es ist ein bisschen wie im Krimi: Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Doch ob nun das Urteil für oder gegen uns ausfällt, es läutert uns schon durch die Kraft seiner Sprache. In seinem Werk gelang Schmidt aufs Trefflichste darzustellen, was ihm der Mensch war und was er wohl auch ist: ein Gemisch aus Scheiße und Mondschein.
Wer’s nicht glaubt und wem Rara wie der Fragmenteband zu teuer sind, der greife flugs zum neu mit einem klugen Nachwort von Georg Klein erschienenen Roman „Das steinerne Herz“ oder, noch besser, zum Schönsten, weil Zärtlichsten, was Schmidt geschrieben hat: „Seelandschaft mit Pocahontas“.
Arno Schmidt: „Brüssel/Die Feuerstellung“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 70 Seiten, 50 €Ľ„Das steinerne Herz“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 256 Seiten, 15,80 €Ľ„Seelandschaft mit Pocahontas/Die Umsiedler“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1996, 125 Seiten, 7,90 €
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