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Rote Parolen im grünen Kiez

„Abenteuer Kreuzberg“: Am 1. Mai veranstaltete die „Fahrradstation“ eine geführte Tour durchs legendäre SO 36. Kreuzberger geben zwischen Polizeiaufgebot und Demo-Schaulustigen Geschichten von Revolution und alternativem Leben zum Besten

von ANDREAS RÜTTENAUER

Ja, es ist wirklich noch ein bisschen früh am Feiertag. „Das machen die seit den Studentenunruhen so, damit keine Störer kommen.“ Gernot Hofmann ist in seinem Element. „Früher hat der DGB auch am Nachmittag angefangen mit seiner Kundgebung. Das wäre ja auch das Normale in Berlin.“ Hofmanns Erzählungen führen in seine wilden Jahre, in denen er und seine Kumpels mit roten Fahnen zur DGB-Kundgebung erschienen und von den Gewerkschaftsordnern prompt verprügelt und des Platzes verwiesen worden seien. „Ja, ja, so war das früher.“ Jetzt wissen Hofmanns Zuhörer, warum sie so früh aufstehen mussten. Die 68er sind wieder einmal schuld. Die Zuhörer sind Teilnehmer einer geführten Fahrradtour durch Berlin. „Abenteuer Kreuzberg“ heißt die von ihnen gebuchte Führung. Damit auf dem Weg nach SO 36 auch die DGB-Kundgebung vor dem Roten Rathaus mitgenommen werden kann, hat das Programm zwei Stunden früher begonnen.

Die Führung ist fester Bestandteil im Angebot der „Fahrradstation (siehe Spalte). Die betreibt nicht nur ihr Ladengeschäft mit vier Filialen in Mitte und Kreuzberg, sondern ist eben auch Veranstalterin von Kulturführungen. Das Programm der Kreuzbergtour soll Einblicke in den Kiezalltag vermitteln. Am 1. Mai bekommt der Titel „Abenteuer Kreuzberg“ eine ganz andere Dimension. Schon vor der Abfahrt bekommen die Teilnehmer zu spüren, dass am Tag der Arbeit in Berlin eine ganz eigenwillige Atmosphäre herrscht. Vor der Filiale im Bahnhof Friedrichstraße dominiert die Farbe Grün. Einheiten des Bundesgrenzschutzes formieren sich für ihr „Abenteuer Maifeiertag“.

Vera Bescey scheint die Sicherheitskräfte kaum wahrzunehmen. Sie wird zusammen mit Hofmann die Tour durch Kreuzberg führen. Als erfahrene Guide ist die Schwedin, die seit den 80er-Jahren in Berlin lebt, für die historischen und kunstgeschichtlichen Erläuterungen zuständig. Besonders spannend werden ihre Ausführungen, wenn sie von sich erzählt, von ihren Studentenjobs, von ihren Wohngemeinschaften in Berliner Altbaulofts, wenn sie regelrecht Werbung macht für das Leben in der Westberliner Alternativoase der 80er-Jahre. Sie schwärmt von den neuen Grünanlagen Kreuzbergs, die auf dem ehemaligen Mauerstreifen entstanden seien, führt die Radlergruppe durch die kleineren Straßen des Bezirks: „Das glaubt man oft gar nicht, wie grün Berlin ist.“

Aus irgendeinem Gebüsch schleicht ein gepanzerter Polizist hervor. Doch dieses Grün hat Bescey nicht gemeint. Die Randalen, deren erster Teil schon am Vortag stattgefunden hat, scheinen beinahe ein Tabuthema zu sein. Gernot Hofmann regt sich kurz darüber auf: „Das sind doch alles Idioten. Die haben überhaupt keine Ziele mehr, die wollen nur Randale.“ Als es noch Ziele gab, stand er auf der Seite der Revolutionäre. Heute interessiere ihn das alles nicht mehr. Er höre nicht einmal mehr die Polizeisirenen, „so geht mir das am Arsch vorbei“.

Die schöne neue Grünanlage an der Alten Jakobstraße erweist sich als wenig aufgeräumt. Einer der Teilnehmer meldet einen Platten am Hinterrad. Zu Fuß geht es weiter durch unansehnliche Sozialbausiedlungen aus der Zeit des Westberliner Sozialdemokratismus. Auf einer freien Fläche mitten im Häusermeer ist ein Kinderbauernhof untergebracht. Rurale Romantik versprüht die Anlage nicht gerade, ein Blick auf die benachbarten Wohnquartiere genügt allerdings, um die Schließungspläne des Senats als asozial zu empfinden. Während einer Kaffeepause kommt ein radelnder Monteur der Fahrradstation und wechselt das defekte Hinterrad aus. Endlich geht es zum Oranienplatz.

Einige rot und schwarz gekleidete Aktivisten verfolgen bemüht die Kundgebung irgendeiner linken Demo. Die Rasenflächen am berühmten Platz der Krawalle sind mit Glasscherben und platt getretenen Getränkebüchsen übersäht. Die zwei Führer kennen das Bild, fahren mit den Rädern quer über die Wiesen. Für die Fahnen und Transparente haben sie keine Augen. Am Ende der Runde steht ein Treffen mit dem Politikwissenschaftler Peter Grottian auf dem Programm. Der Organisator des Bürgerprotestes gegen Gewalt mit dem Titel „Denk Mai neu!“ sitzt am Rande des Oranienplatzes und beobachtet das Geschehen. Wie Opa Kreuzberg wirkt der ewig engagierte FU-Professor, der mit sorgenvoller Miene den Satz vom „positiven Scheitern“ seiner Strategie vorträgt.

Die beiden Führer verabschieden sich. Immer mehr Menschen bevölkern den Platz. Junge Männer mit Bierbüchsen, junge Punks mit alten Räuschen, grauhaarige Türken mit Gebetsketten, sie alle flanieren an der Filiale des am Vorabend geplünderten Supermarkts vorbei. Abenteuerlich normal wirkt das revolutionäre Kreuzberg.

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