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Der wahre Sohn des Himmels

Im Jahr 2003 wird es den Jangtse so nicht mehr geben. Eine Abschiedsfahrt auf drei verschiedenen Schiffen von den Klüften Sichuans bis in die Straßenschluchten Schanghais. Und schließlich nach Zhouzhuang, einer der großen Attraktionen des Landes

Das amphibische Leben bringt eigentümliche Existenzen hervor

von STEFAN SCHOMANN

5.800 Meter über dem Meer entspringt der Jangtse in den kalten Weiten des tibetischen Hochlands. Er ist der wahre Sohn des Himmels. Dort, wo er herkommt, sagen sich Bären und Wölfe gute Nacht. Dort, wo er hinfließt, in eine Kette fruchtbarer Becken, lebt ein Zwölftel der Menschheit: gut 450 Millionen Chinesen. Sie nennen ihn schlicht Changjiang, Langer Fluss. Ich wollte ihn noch erleben, bevor der gewaltige Staudamm ihn ein für allemal verändert. An Bord dreier Schiffe, die unterschiedlicher kaum sein könnten, habe ich in acht Tagen fast die gesamte navigierbare Strecke passiert – rund 2.500 seiner 6.380 Kilometer.

Für uns Westler bedeutet schon die Reise nach Chongqing einen Vorstoß ins Unbekannte. Die ferne Metropole im Gebirge liegt eingefasst von üppig grünen Reisterrassen, die dank des subtropischen Klimas drei Ernten im Jahr abwerfen. Ein Dickicht aus Hochhäusern bedeckt die Hänge am Zusammenfluss des blaugrauen Jialing mit dem sepiafarbenen Jangtse. Zwei Seilbahnen schweben wie eiserne Hutschachteln darüber hin.

Halb nackte Lastenträger hetzen hinter den Taxen her, welche die Passagiere zum Pier bringen. Kein Fitnessstudio hat diese Körper modelliert, sondern die Fron des täglichen Lebens. Mit Tschingdarassassa begrüßt eine Folkloregruppe die Gäste an Bord der „Victoria I“. Eine schwimmende, weiß-blaue Pagode, 87 Meter lang, 3.400 Tonnen schwer, dabei mit kaum mehr Tiefgang als ein Geigenkasten.

Am nächsten Morgen legt das Schiff feierlich ab und wird von der Strömung ins Gebirge hineingesogen. Erst hängen Nebelschwaden über dem Wasser, dann Dunstschleier als Vorboten des Monsuns. Die heitere Gesellschaftsreise gerät zur mystischen Fahrt ins Ungewisse. Der Fluss hat das Kommando übernommen.

Die Gäste stammen zu zwei Dritteln aus Amerika, zu einem Drittel aus Europa; auch Auslandschinesen sind darunter. Vier Tage und Nächte werden sie an Bord zubringen. Die Crew-Mitglieder freilich kreuzen neun Monate lang auf dem Jangtse. Dieses amphibische Leben bringt eigentümliche, zwischen Freiheit und Melancholie schlingernde Existenzen hervor. Zum Beispiel Zhou Yan: Mollig, mondgesichtig und mit Koteletten bis zum Hals, entspricht er dem Klischee vom chinesischen Pinselfürsten. Die alten Ladys aus Arizona und die resche Alleinerbin aus Luzern machen gerne an seinem Zeichentisch Station. Mitunter trifft man ihn auch an Deck: Er wolle die Essenz des Flusses in sich aufnehmen, erklärt er, um eines Tages sein großes Werk vollbringen zu können, ein Kolossalgemälde des Jangtse. Eine Etage tiefer hat Schiffsarzt Dr. Fan sein Sprechzimmer. Mit sanfter Stimme und gepflegten Händen behandelt er Reisefieber und Verstopfungen, lädt zum Tai-Chi auf dem Sonnendeck und praktiziert Akupunktur. Gestorben sei ihm noch niemand an Bord, berichtet er. Im Gegenteil: die Harmonie mit den Elementen, das geruhsame Leben, die frische Luft – der Jangtse wirke wie eine Kur.

Der erste Landgang führt auf den Tempelberg von Fengdu. Seine Hallen und Höfe beherbergen ein Panoptikum aus taoistischen Naturgottheiten, keulenschwingenden Kriegern und schmerbäuchigen Buddhas. Die schaurigen Namen vieler Stätten – Blutfluss, Brücke ohne Ausweg, Turm des letzten Blicks auf die Heimat – haben ebenso wie das Prädikat „Geisterstadt“ durch den Staudamm neue Bedeutung erhalten. Die letzten der 50.000 Einwohner werden derzeit umgesiedelt. Wang Jing-Wen, unsere junge Führerin, zeigt uns das großelterliche Häuschen in der winkligen Altstadt und den Wohnturm am anderen Ufer, wo in sicherer Höhe eine komplette neue Stadt entstanden ist. Während sie die Umsiedlung als Fortschritt ansieht, bricht es ihrer Großmutter fast das Herz. In wenigen Monaten wird die gesamte Altstadt gesprengt werden und dann in den Fluten versinken.

Hinter Fengdu nimmt eine der berühmtesten Landschaften Asiens ihren Anfang, eine Bergwelt von prähistorischer Ruhe und Majestät: die drei Schluchten. Aus der ersten stürzt uns ein Wind entgegen, als fliehe er vor einem grausigen Ereignis. Vor der zweiten muss der Kapitän zentimetergenau navigieren, weil wandernde Sandbänke die Fahrrinne verengen. Überall entlang des Flusses verkünden Markierungen den Pegelstand nach Inbetriebnahme des Damms: erst 130, bis ins Jahr 2009 dann 175 Meter über Meereshöhe, gegenüber dem natürlichen Niveau von etwa 100 Metern. Der reißende Gebirgsfluss wird zu einem 600 Kilometer langen Stausee domestiziert. Dieser Tage gerät jede Jangtse-Reise zur Abschiedsfahrt. Zu lesen, dass gut eine Million Menschen umziehen, ist eine Sache – und tagelang an Städten, Feldern und Fabriken vorüberzugleiten, die dem Untergang geweiht sind, eine ganz andere.

Um den Fluss hautnah zu erleben, durchfahre ich die dritte Schlucht auf einem Lastkahn, einem langen Trog mit einem Bretterverschlag über der dröhnenden Maschine. Kapitän Wu transportiert alles von Birnen bis zu Stahlträgern und verbringt 300 Tage im Jahr auf dem Fluss. Für ihn sei er wie eine Mutter: mal sanft, mal wütend; meist nährend, manchmal zerstörend. Noch vor Tagesanbruch fahren wir in die himmelhohe Schlucht ein. Drei Stunden später kommt der Staudamm in Sicht, und die Szenerie verändert sich radikal. Wo eben noch Berge aufragten, prangt jetzt Beton. Ein Gestrüpp von Kränen überspannt die Großbaustelle, auf der Hunderte von Kipplastern und Schaufelbaggern ihre emsige Choreografie vollführen.

Wir legen in Sandouping an, gleich hinter der Staumauer. Die Reißbrettstadt wirkt wie ihr eigenes Modell, und wie auf Kommando dringt Sonnenschein durch den milchigen Morgen. Im Besucherzentrum betet der Führer allerhand Superlative herunter, die zwei sehr chinesische Zwangsvorstellungen verraten: die Obsession der großen Zahl und die Obsession der Kontrolle. Mit diesem pharaonischen Projekt feiert Chinas Führung ihre Macht über die Natur wie über das Volk. Hochglanzbroschüren beschwören die Bedeutung des Dammes für Energiegewinnung und Hochwasserschutz. Seit Menschengedenken hat der Jangtse die Ebenen immer wieder überschwemmt – und damit zugleich deren immense Fruchtbarkeit ermöglicht. Jeder Quadratmeter ist bepflanzt, selbst die immer höher wachsenden Deiche.

Auf den Märkten von Wuhan lässt diese Fülle sich mit Händen greifen. Vor allem an Wassergetier herrscht unerschöpfliche Auswahl: zappelnde Frösche, apathische Schildkröten, wuselnde Aale, eingelegte Schlangen. Dank eines patenten Taxifahrers lande ich abends im Kang Long Taizi Wineshop, einem populären Fischlokal. Hartgesottene Geschäftsleute und gutsituierte Familien, die alten Kader und die Jeunesse dorée, sie alle pilgern in diesen Fresstempel mit 800 Plätzen. Pflichtgemäß wollte ich Wu-Chang-Fisch probieren, eine lokale Spezialität, seit Mao ihn in einem Gedicht erwähnte. Doch der Taxifahrer belehrt mich, die alten Zeiten seien vorbei. Wer heutzutage in sein wolle, müsse Gui-Fisch essen. Natürlich schmecken beide herrlich delikat – nur kostet Gui dreimal so viel.

Wuhan zählt mehr Einwohner als Los Angeles und ist doch im Westen gänzlich unbekannt. Einige säulenbewehrte Kolonialpaläste entlang des Kais künden von seiner Bedeutung als Handelsplatz. Alle Dschunkenromantik ist freilich längst passé. Für die zweitägige Fahrt bis Schanghai nehme ich das nächstbeste Passagierschiff. Sein Name ist so spartanisch wie seine Ausstattung – Nr. 92. Die schmuddeligen, fensterlosen Zweierkabinen der zweiten Klasse bilden die höchste Komfortstufe; in der fünften Klasse zwängen sich dreißig Menschen zwischen Maschinen- und Frachtraum. Küchendünste, Dieselqualm und der Muff von zwanzig Jahren unablässigen Gebrauchs vermengen sich zu einem herb exotischen Aroma. So geheimnisvoll die Fahrt durch die Berge war, so prosaisch gerät die durch die Ebene. Die Deiche degradieren den Fluss zum Kanal, das flache Ackerland zu beiden Seiten zieht gleichförmig dahin. So kann ich mich ganz den Mitreisenden widmen. Da ist Professor Li, als Fachmann für Bodenkunde auf dem Weg zu einem Kongress in Nanjing. „Seit dreißig Jahren warnen wir vor der Erosion am Fluss – seit drei Jahren erst finden wir Gehör.“ Da sind der distinguierte Firmenchef und sein Sekretär, die per Schiff zur Vertragsunterzeichnung nach Schanghai reisen, „um mal zwei ruhige Tage zu haben“. Da sind die brüllenden Kantinenhelfer, die ihre Abfälle säckeweise über Bord werfen.

Polizist Chen Qiang sollte derlei Frevel eigentlich unterbinden, kann jedoch seine Augen nicht überall haben. Seit acht Jahren sorgt er an Bord von Nr. 92 für Ruhe und Ordnung. Schlichtet bei Schlägereien, ermittelt bei Diebstählen, holt auch mal einen Lebensmüden von der Reling oder eine Schwangere in die zweite Klasse, wenn unterwegs die Wehen einsetzen.

Über Nacht hat sich der Strom nochmals geweitet, kein Ufer ist mehr auszumachen. Er mündet wieder in den Himmel ein. Auf dem kabbeligen Wasser herrscht dröhnendes Gedränge; schon Marco Polo staunte über den „unvorstellbar intensiven Schiffsverkehr“.

Bereits Stunden vor der Ankunft empfängt uns Schanghai mit dem Getöse und Gewimmel eines Welthafens. Eisgraue Fregatten, tuckernde Fischerkähne, Containerriesen unter Billigflaggen, Tragflügelboote. Nach der endlosen Ebene schwingt die Stadt sich zu staunenswerter Vertikale auf. Die Handelspaläste der Uferpromenade werden vom Zukunftsviertel Pudong in den Schatten gestellt. Neben der Klistierspritze des Fernsehturms bildet dort der Jin-Mao-Turm Schanghais neues Wahrzeichen, einer der höchsten und elegantesten Wolkenkratzer der Welt.

Von den Klüften Sichuans bis in die Straßenschluchten von Schanghai – die Reise könnte hier zu Ende sein. Doch bliebe dann nicht ein Wunsch unerfüllt – der, ein Stück gutes, altes China erlebt zu haben? Also fahre ich per Bus zu einem Ort im Delta, der in kaum einem Reiseführer verzeichnet steht. Und doch bildet Zhouzhuang eine der großen Attraktionen des Landes, seit Maler und Filmemacher es als Kulisse entdeckten.

Ein Netz aus tintenschwarzen Kanälen durchzieht das verschachtelte Städtchen: eine bezaubernde Chinoiserie mit unzähligen Brücken und Booten, verborgenen Tempeln, Teehäusern und Gärten. Ich kehre in einem Antiquitätenladen ein und gerate unversehens in eine Abschiedsfeier. Ururgroßmutter Xu Er-Bao – „zweiter Schatz“ – ist vor einigen Wochen an ihrem 97. Geburtstag entschlafen. Heute sagt ihr die Familie Lebewohl, indem sie Gaben auf einem Scheiterhaufen verbrennt. Darunter ein Puppenhaus, Hühnerfleisch und Tee sowie Geldbündel aus Staniolpapier. Und, als Krönung des Ganzen, ein dickes, rosarotes Schiff. Eine Nr. 92 ganz für sie allein und ihre letzte Reise.

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