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Stromindustrie darf sich ruinieren

Das finnische Parlament genehmigt Bau eines neuen Atomkraftwerks. Grüne Partei diskutiert, ob sie jetzt die Regierung verlassen soll. Ob in der EU jetzt erstmals nach der Tschernobyl-Katastrophe ein Reaktor gebaut wird, bleibt dennoch fraglich

aus Helsinki REINHARD WOLFF

Andere Länder steigen aus der Atomkraft aus – Finnland baut neu. Mit 107 zu 92 Stimmen billigte das Parlament in Helsinki gestern den Bauantrag der Energiegesellschaft „Teollisuuden Voima“. Jetzt kann der fünfte Reaktor entstehen, zusätzlich zu den je zwei Reaktoren sowjetischer bzw. schwedischer Bauart, die seit Ende der Siebzigerjahre rund 30 Prozent des nationalen Strombedarfs decken.

Die Abstimmung war der dritte Anlauf der Atomlobby, eine Baugenehmigung zu bekommen. Zuletzt war man 1993 mit 107 zu 90 Stimmen gescheitert. Eine große Rolle bei der jetzigen Entscheidung vieler Abgeordneter spielte die Tatsache, dass Finnland vor einem Jahr als weltweit erstes Land einen politischen Beschluss zur unterirdischen Lagerung der abgebrannten Brennelemente getroffen hatte. Ob der Müll von vier oder fünf Reaktoren dort lande, so eine häufige Argumentation, spiele da auch keine Rolle mehr.

Wirkung zeitigte bei der Mehrheit der ParlamentarierInnen die Argumentation von Industrie- und Gewerkschaftslobby, die finnische Wirtschaft brauche neuen Billigstrom und ein Bau sei die reinste Konjunkturspritze, die gleich mehr als ein Viertel der jetzt Arbeitslosen Beschäftigung sichern werde.

Tatsächlich stehen gleich mehrere Fragezeichen hinter den Bauplänen der Industrie. Angesichts des aktuellen Strompreisniveaus rechnen sich die Baukosten von geschätzten 2,5 Milliarden Euro für einen Reaktor von 1.400 MW Leistung nicht. Selbst wenn die ungeduldig auf solch einen Neuauftrag hoffenden Reaktorbauer preislich vermutlich zu nahezu jedem Entgegenkommen bereit sein dürften. Wie sich nach der auf sechs bis sieben Jahre geplanten Bauzeit der Strommarkt darstellt, ist ebenfalls ungewiss. „Lasst sie doch bauen“, vertraut die Helsinkier Tageszeitung Hufvudstadsbladet auf die Gesetze der Marktwirtschaft: Der Staat habe die Stromindustrie nicht vor ruinösen Investitionen zu beschützen.

Obwohl also der AKW-Neubau aus wirtschaftlicher Sicht fraglich ist, stehen Finnlands Grüne jetzt vor einer schweren Entscheidung. Zwei Legislaturperioden hat man relativ erfolgreich in einer breiten „Regenbogenkoalition“ mitregiert. Eine Fraktion um den Vorsitzenden Osmo Soininvaara möchte dies auch weiterhin: „Es gibt in Zukunft noch mehr wichtige politische Fragen als den fünften Reaktor.“ Doch eine starke Stimmung in der Partei sieht die Situation wie deren grüne Europaparlamentarierin Heidi Hautala: „Wenn wir in der Regierung bleiben, reihen wir uns in die konventionellen Parteien ein, für die kurzfristige politische Einflussnahme wichtiger ist als die Ideologie.“

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