Möllemann tut gar nicht weh

„Alle führen diese verquere Diskussion über Ausländer, über Juden, über Israel.“

aus Rostock ULRIKE WINKELMANN

Die Jugend: Die jungen Leute sind es, die man verstehen muss. „Die sind so. Die sind anders.“ Holger Andresen kommt sofort auf seine eigenen Söhne zu sprechen, wenn er gefragt wird, was er vom Vizechef seiner Partei, Jürgen Möllemann, hält. Wie er sind seine Kinder in der FDP, aber, der 61-jährige Arzt kichert verlegen, „stramm rechts von mir“.

Merkwürdig findet er das auch, dass sein Ältester, heute 33 und mit Medizinstudium in der Public-Relations-Branche, und der jüngere, 22 und mit Berufswunsch Event Management, sich nie gegen ihren Vater aufgelehnt haben. „Ich dachte, das wäre so, dass eine junge Generation das macht. Habe ich doch auch, beim Vietnamkrieg auf Straßenbahnschienen gesessen, und meine Eltern waren empört.“ Kein Vorwurf sei das – aber manchmal findet er, dass die jungen Leute „nachlässiger im Nachdenken sind, wenn sie solche FDP-Forderungen aufstellen wie Steuern runter, also, ob das wirklich zu mehr Arbeit führt“. Er überlegt noch mal, bevor er sagt: „Sie sind auch härter.“

Andresen sitzt auf dem Garderobentresen in der Lobby der Rostocker Stadthalle. Drinnen, im braun ausgekleideten Saal, schwer zu entscheiden, ob das DDR-Stil oder einfach nur 70er-Jahre-Charme ist, findet der Deutsche Ärztetag statt, das Parlament der 370.000 deutschen Ärzte. Wie viele FDP-Anhänger darunter sind, ist statistisch nicht erfasst. Aber weil politische Regelungen und Beschränkungen Ärzten traditionell ein unmedizinischer Gräuel sind und die FDP immer am wenigsten regeln will, ist man sicher nicht ganz falsch hier in Rostock, wenn man etwas über die Befindlichkeit der liberalen Wählerschaft erfahren will. Obwohl FDP-Chef Guido Westerwelle mit so einer Stichprobe sicher nicht einverstanden wäre, weil seine Partei ja inzwischen längst keine der Besserverdienenden mehr ist, sondern eine Volkspartei. Eine Volkspartei, die sich zwecks „Emanzipation der Demokraten“ neuerdings explizit auch an Menschen wendet, die in Österreich vielleicht Jörg Haider wählen würden. So hat es jedenfalls Jürgen Möllemann formuliert, und es stellt sich die Frage, ob ein klassischer FDPler wie Holger Andresen mit dieser Sicht einverstanden ist.

„Wegen zwei Sätzen von Möllemann wird das doch keine andere Partei“, sagt der Arzt, der in Ostholstein eine Praxis für innere Medizin hat. Nun ja, insgesamt zwar sei die FDP anders als 1968, als er mit 25 Jahren aus Begeisterung für Ralf Dahrendorfs „Reformkapitalismus“ zu den Liberalen stieß. „Meinetwegen hätte das später dann immer so weitergehen können mit der sozialliberalen Koalition.“ Fast hätte er die FDP verlassen, als sie Helmut Schmidt 1982 verriet und so die Kohl-Ära einleitete. „Aber man wechselt die Partei nicht wie Unterwäsche.“ Andresen schlenkert mit den Beinen und beugt sich beim Zuhören vor. Er hat ein weiches Gesicht, seine Nickelbrille hat kreisrunde Gläser, und er spricht ein leicht vernuscheltes Norddeutsch, flüssig, aber zerstreut.

Holger Andresen nennt Möllemann den „Fallschirmspringer“. Er sagt: „Ich mag den doch auch nicht“, beziehungsweise: „Ichmachdendochauchnich.“ Aber „bei den Jungen kommt der gut an“. FDP-Chef Guido Westerwelle sogar noch besser. „Das macht einfach Spaß, was die FDP heute macht, sagen die, der Westerwelle verkörpert einen ganz neuen Politikertyp.“ Und was Möllemann angeht: „Die sind unbefangener, die werten das, was Möllemann sagt, als wilden Farbtupfer.“

Man muss schon dreimal nachfragen, bevor Andresen seine eigene Meinung zum Möllemann-Komplex formuliert. „Das war eben eine ungünstige Konstellation“, Möllemann und Michel Friedman, den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden und Fernseh-Talker, aufeinander prallen zu lassen. „Das sind zwei mediengeile Hengste.“ Und wenn Möllemann gar absichtlich Stimmen von rechtsaußen fischen wollte – ach, richtig glauben mag er das der Journaille ja nicht –, dann sei das natürlich nichts Gutes. Aber, wenn er sich in seinem Kollegenkreis so umhört, „die sagen alle, wenn das so weitergeht, dann wähle ich allein schon deswegen FDP“. Man müsse Israel kritisieren dürfen. Und, sagt Andresen, und jetzt wird seine Stimme fast ärgerlich, „der Friedman ist doch gehässig, das ist kein friedliebender Mensch“.

Im Plenum stimmen die Ärztevertreter gerade darüber ab, dass man für die jungen Mediziner bessere Arbeitsbedingungen schaffen müsse, darüber, dass der Ökonomisierung des Gesundheitswesens Einhalt geboten werden müsse und darüber, dass zum Wohle aller Patienten jede Deckelung der Ausgaben abgeschafft gehöre. Der Vorstand der Bundesärztekammer sitzt dem Plenum in zwei Reihen erhöht gegenüber. Im Halbdämmer der Halle schwärmen Rostocker Schülerinnen mit Bauchfrei-Oberteilen, Wallehaaren und Turnschuh-Netzstrumpf-Kombinationen aus, um die Anträge zu verteilen, die am Rednerpult gestellt werden. Drei Minuten Redezeit hat jeder, und fast alle halten sich daran, sonst gibt es mahnende Wort vom Präsidium.

Für die Auftaktveranstaltung am Tag zuvor hatte sich die Bundesärztekammer die kühle, stählerne Kulisse der Warnemünder Kvaerner-Warnow-Werft ausgesucht. In der Dockhalle, höher, breiter und dramatischer als ein Flugzeughangar, spielte eine Percussiongruppe unter anderem den „Herbst“ von Vivaldis Vier Jahreszeiten auf Xylophonen, ihre dunkelroten Bauchbinden und weißen Hemden eine kleine motivische Wiederholung des 30 Meter hoch aufragenden Schiffshecks hinter ihnen: oben weiß, unten dunkelroter Rostschutz. Im Anschluss war es Professor Dr. med. Dr. med. h.c. Dr. med. vet. h.c. Hanns Gotthard Lasch, frisch mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet, der am meisten Applaus bekam. Lasch geißelte die „Bürokratie“, „staatliche Repressalien“, durch die Ärzte vom Heilen abgehalten würden.

Thomas Lipp gefallen solche Sätze. Der 42-jährige Leipziger ist dynamisch und fasst Leute beim Reden gerne auch an, mit der Autorität des Facharztes für Allgemeinmedizin – in Westdeutschland würde man Hausarzt sagen. Aber einmal abgesehen davon, dass die ostdeutschen Allgemeinmediziner besser ausgebildet sind als die westdeutschen Hausärzte, läuft im Westen auch sonst einiges „verquer“, wie er sagt: „Gesinnungsterror ist das, was die Westdeutschen mit ihrer politisch korrekten Kultur betreiben.“ Natürlich sei er kein Möllemann-Fan. Viel weniger mag er noch die Sozialliberalen mit „ihren Strafrecht-Ansichten“, eine Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, einen Burkhard Hirsch, eine Hildegard Hamm-Brücher: Viele gute Gründe, nicht die FDP zu wählen. Aber Möllemanns Äußerungen beziehungsweise die Reaktionen darauf: „Das ist Grund genug, sie doch zu wählen“, sagt Lipp. Wird er wohl tun am 22. September.

Lipps schwarzes Hemd fällt ungebügelt-blusig, sein Haar ist mehr als licht, am Handgelenk trägt er eine Uhr, deren Ziffernblatt die alte Einemark-Münze zeigt. „Ein Scherz“, sagt er dazu, „ich genieße den Euro.“

„Die Jungen sind unbefangener, die werten das als wilden Farbtupfer.“

Lipp, als Arztsohn in der DDR zunächst vom Studium ferngehalten, dann doch zur Medizin gekommen, hat dort 1989, zur Wende, die SDP mitgegründet, an die sich dann die SPD „mit ihrem Genossentum ranschmiss“. Von einer Bundestagskandidatur für die SPD – der Sitz war sicher – hat er damals, in der „irren Zeit“ Anfang 1990, nur abgelassen, weil seine Frau sagte: „Der Bundestag oder ich.“ Also, Möllemann: Der habe nun einmal in der Sache Recht. Das mache ihn nicht zum Antisemiten: „Nur diese miese Figur Friedman sorgt dafür, dass die Leute sich gegen etwas stellen, gegen das sie nie waren.“

Im Übrigen hätten ihm, Lipp, das auch ausnahmslos alle bestätigt: Wenn jetzt die West-Gesinnungsterroristen mit ihrem verkrampften Israel-Verhältnis über Möllemann herfielen, „muss man ja geradezu FDP wählen“. Um die Demokratie und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu retten. Alle anderen „führen diese ganze verquere, verlogene Diskussion über Ausländer, über Juden, über Israel. Dabei wird das gesunde Empfinden des Stammtischvolks unterschätzt. Die Leute wissen doch, mit wem sie es zu tun haben, sie müssen von Politikern nicht vor der Wahrheit geschützt werden.“

Damals, als Lipp sich gegen eine Politikerkarriere entschied, hat der Hartmannbund bei ihm angerufen, der eher rechtsliberale bis konsvervative freie Ärzteverband, und warb ihn als Vorstandsmitglied im Osten. „Ich bin immer in so ziemlich allen Vorständen, die es gibt“, sagt er. Das Ständische habe etwas mit der Würde des Berufs zu tun. Und beim Hartmannbund habe man schon immer vorausschauend gedacht. Nur er sage bereits jetzt, dass die Leute sich bald gegen viele Gesundheitsrisiken extra versichern oder eben bar bezahlen müssten – Unfälle etwa, aber auch medizinische Innovationen. „Warten Sie nur, bis das auch alle anderen fordern“, sagt Lipp. Möllemann, immerhin einst gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, hat das erst vor wenigen Tagen auf einem Berliner Gesundheitskongress gefordert.

Für „mehr Eigenverantwortung“ und „mehr Selbstbeteiligung“ der Patienten ist auch Andresen: „Das gehört zur Liberalität.“ Zwei Minuten später wird er heftig: „Das ist Mist! Mist ist das!“, dass etwa Schwangerschaftstests bei Ärzten neuerdings privat bezahlt werden müssen. Er mache da nicht mit, dass die Ärzte jetzt für Leistungen, die nicht der Krankheitsbekämpfung dienten, vor den Patienten die Hand aufhalten. Dann zahlt er das eben selbst. Da muss man ja drauf aufpassen, dass das nicht zur Zweiklassenmedizin ausartet, sagt er. Was, er klingt mehr wie eine SPD-Politiker als ein FDP-Mitglied? „Na und, muss das denn immer alles zusamenpassen?“