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Spieglein, Spieglein

Absitzer, Träumer, Streber, Auswendiglerner, unter-Druck-Lerner, sich schlau-Finder, Meckerheini: Wer ist der perfekte Oberstufenschüler?

von ANJA WIESBROCK

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist wohl der perfekte Oberstufenschüler im Abiland?

Bin ich es, Spiegel, der ständig über den nervenaufreibenden, sinnlosen Unterricht meckert und dabei vergisst, dass er freiwillig hier ist? Oder bin ich es, der sich für kein Fach wirklich interessiert, der jede Schulstunde absitzt, sich nie vorbereitet und lieber den eigenen Gedanken nachhängt, als zuzuhören?

Oder bin ich es, der Begabung und Interesse in einem ganz bestimmten Fach zeigt, sich darin auch engagiert, aber später nicht zum Kunststudium zugelassen wird, weil in Physik und Mathe Punkte fehlen?

Oder bin ich es, der sich um nichts kümmert, sich lieber anderswo aufhält als in den Klassenräumen und nur zur Schule kommt, um sich die Laufzettel abzeichnen zu lassen? Oder aber bin ich es, der zwar brav alle Schulstunden besucht, jedoch nie seine Meinung preisgibt, weil sie entweder überhaupt nicht vorhanden ist, oder weil ich gelernt habe, dass man bestimmte Meinungen bestimmten Lehrern gegenüber besser nicht äußert, wenn man mit einer guten Punktzahl aus dem Kurs kommen will?

Oder bin ich es, der meistens im Rudel auftritt, meinem Nachbarn Kommentare zuflüstere, wenn ein Mitschüler etwas sagt, was mir missfällt um ihn anschließend unter dem Tisch mit einem imaginären Maschinengewehr abzuschießen? Oder bin ich es, der sich bei allen Lehrern einschmeichelt, Interesse vorheuchelt, die Tafel putzt und allen auf die Nerven geht? Oder bin ich es, der weder intelligent noch motiviert oder zielstrebig ist, besser auf einer Hauptschule aufgehoben wäre und der trotzdem bis zum Abitur mitgeschleift wird und dieses auch noch besteht?

Oder bin ich es, der intelligent ist, sich für intellektuell hält, der aber beinahe durchs Abi fällt weil er nie zum Sportunterricht gegangen ist? Oder bin ich es, der eigentlich nichts zu sagen hat, sich der mündlichen Beteiligung wegen aber ständig meldet und sich in Aussagen verhaspelt, die wirklich niemand hören will? Oder bin ich es, der schon seit der neunten Klasse nichts mehr versteht, aber im Unterricht jedes Wort des Lehrers sekretärinnengetreu aufschreibt, es dann in der Klausur wiederholt und damit wahre Begeisterungsstürme des Lehrers über diese „qualifizierte“ Meinung auslöst? Oder bin ich es, Spiegel, der unsagbar stolz ist über das, was er am Ende des Semesters geleistet hat, jedoch dabei vergisst, dass dies nur unter dem oft so verfluchten Druck der Lehrer erzwungen wurde?

Der Spiegel gibt keine Antwort, und es ist auch egal – denn am Ende halten wir alle unser REIFEzeugnis in der Hand.

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