: Sich dumm und dämlich sparen
Der Doppel-Gau Pisa und Erfurt hat gezeigt: Fachliche Leistungen und soziales Lernen, Effizienz und Humanität gehören immer zusammen
von MARC BÖHMANN
Die Mär vom Erfolg des deutschen Schulwesens war tatsächlich einmal Wirklichkeit. Vor 100 Jahren galten unsere Schulen national wie international als vorbildlich. Eines der leistungsfähigsten Schulsysteme mit Schulpflicht, modernen Inhalten auch im Gymnasium, selbst Mädchen konnten ein Abitur erlangen. Und das Weimarer Schulgesetz schuf die Grundschule für alle Kinder und leitete damit die Abkehr vom Standesprinzip und die Hinwendung zum Leistungsprinzip ein.
Und heute? Das laufende Schuljahr 2001/2002 wird in die bundesdeutsche Geschichte eingehen. Vom Erfolg der deutschen Schulen ist keine Rede mehr. Wie selten zuvor markieren zwei Ereignisse grundlegende Fragen und auch Zweifel an dem, was an jedem Schultag rund 700.000 LehrerInnen an 35.000 Schulen mit rund 12,5 Millionen Schülern machen.
Das erste Ereignis war die Veröffentlichung der OECD-Studie, die unter dem Namen Pisa die Kompetenzen von 15-Jährigen im Lesen, in Mathematik und in Naturwissenschaften untersuchte. Was herauskam, haben zwar viele geahnt und befürchtet. Und trotzdem war es ein Hammer: Deutsche Schüler rangieren im unteren Mittelmaß. Nahezu jeder vierte hat große Schwierigkeiten, selbst einfachste Texte zu verstehen. Und nur 11 Prozent dieser Risikoschüler werden von den LehrerInnen erkannt. Was noch auffiel: Gerade im Selektieren und Aussondern ist das Deutsche Schulsystem Spitze, im Fördern eher Kreisklasse. Wie kaum woanders bestimmt das Einkommen der Eltern über die schulischen Wege ihrer Sprösslinge. Und obwohl es die Pisa-AutorInnen vorsichtig formuliert haben, bleibt das Ergebnis bedeutsam, dass integrative Schulsysteme und auch solche, in denen bis zum 9. Schuljahr nicht benotet wird, besonders gut abgeschnitten haben. Die deutsche Bildungsseele wundert sich: Trotz fehlender Noten? Ohne Sitzenbleiben? Wahrscheinlicher ist aber: Gerade deshalb.
In der nachfolgenden Diskussion um die Ergebnisse der Pisa-Studie konnte man den Eindruck erhalten, die einzelnen bildungspolitischen Kräfte dieser Republik würden all das proklamieren, was sie schon immer gemeint und gefordert haben – nur diesmal unter dem Türschild Pisa. Da wurde die Kuschelpädagogik und der Leistungsfetisch kritisiert, das Sitzenbleiben und die Gesamtschule als Ursache oder Rettung betrachtet. Die Lehrer haben es auf die Bildungspolitik und die Eltern, die Eltern auf die Lehrer und alle auf die Kultusministerkonferenz geschoben. Und dennoch blieb im öffentlichen Bewusstsein vor allem eines hängen: Alle Beteiligten müssen auch darauf schauen, was bei Schule „hinten rauskommt“, was also eigentlich gelernt wird und welche Kompetenzen im Hinblick auf das spätere Leben der Schüler erworben werden. Erstaunlicherweise merkten auch bisherige bildungspolitische Hardliner, dass die deutschen Schulen und das hiesige Schulsystem von anderen Ländern recht viel lernen können.
Und dann kam Erfurt. Ein gutes Gymnasium in sehr guter Wohngegend, ein Schüler mit ganz normalem Elternhaus, unauffälliger Schulbiografie und offenbar ganz und gar nicht außergewöhnlichen Hobbys. Ein Massaker in einer Schule, verursacht als Rachefeldzug gegen diese Schule und ihre Repräsentanten. Natürlich ist es für die Opfer, ihre Angehörigen, für alle, die mit dem Amoklauf von Erfurt zu tun hatten, ebenso müßig wie wenig hilfreich, sich um das Davor Gedanken zu machen. Und trotzdem muss man fragen: Welchen Beitrag zur Idee, Planung und Durchführung der Morde könnte die Tatsache geleistet haben, dass der Täter am Ende der 12. Klasse ohne Schulabschluss dastand? Welche Sicherungssysteme zwischen Schule und Elternhaus hätten eventuell greifen können? Vielleicht darf auch eine andere Frage gestellt werden: Was wäre in unserer Wahrnehmung anders, was wäre möglicherweise in diesem Land passiert, wenn die Schule eine Hauptschule, der Schüler ein türkischer Jugendlicher gewesen wäre?
Erfurt wird Konsequenzen haben: In den nächsten Jahren wird an keiner Schule eine Lehrer- oder Schulkonferenz einen Schulausschluss beschließen, ohne den Täter Robert S. im Hinterkopf zu haben. Und zu befürchten ist, dass junge, verzweifelte Menschen den Medienrummel um Robert S. und seine Tat als Einladung und Aufforderung zum Nachahmen betrachten.
Pisa und Erfurt haben eine gemeinsame Botschaft für alle, die sich mit Bildung und Schule in diesem Land befassen. Erstens: Bildung ist und bleibt mehr als ein Kostenfaktor. Die nachkommende Generation human und gleichzeitig mit guten Ergebnissen zu bilden und zu erziehen, hat individuelle und gesamtgesellschaftliche Dimensionen. Wer an diesem Punkt spart, der muss gravierende Folgen in Kauf nehmen. Und gerade weil es fünf nach zwölf ist, ist es gut, dass in diesem Schuljahr so viel über die Rahmenbedingungen und die Art und Weise des Unterrichts diskutiert wurde. Man mag beinahe aufatmen: Endlich ist Bildung, ist Schule wieder ein Thema. Daran lässt sich anknüpfen.
Zum Beispiel, indem der Anteil der Bildungsausgaben in diesem Land deutlich erhöht wird, für mehr LehrerInnen, kleinere Klassen, für Klassenlehrerstunden, Schulsozialarbeit, Gewaltprävention und individuelle Förderung. Wenn diese zentrale Stellgröße nicht verändert wird, helfen weder Appelle noch weitere Schulleistungstests. Oder auch in der Reform der Lehrerbildung, weg von einer praxisfernen Vorbereitung auf Idealfälle, hin zum Leitbild der LehrerInnen als ExpertInnen für Lernprozesse, kundig in diagnostischen wie fachdidaktischen Fragen. Merkwürdig: Wie viele überzeugende Konzepte haben Erziehungswissenschaft und Fachdidaktiken in Deutschland schon publiziert, ohne dass es viel, im Unterschied zu Pisa-Spitzenreitern, am Alltag in unseren Schulen verändert hat.
Auch die Lehrerarbeit in Deutschland muss auf den Prüfstand. Ist es Zufall, dass schwedische KollegInnen pro Woche 35 Stunden (das heißt Zeitstunden, nicht 45-Minuten-Stunden!) Präsenzpflicht haben und dass damit feste Anteile für Schüler-Beratung, Elternarbeit und intensive Kooperation im Kollegium verbunden sind? Und schließlich müsste die heilige Kuh „gegliedertes Schulwesen“ geschlachtet werden. Wer nach Pisa immer noch davon redet, dass unterschiedliche Schularten den jeweiligen Begabungstypen (die es ohnehin nie gab) gerecht werden, müsste mit 1.000 Tagen Pflichthospitation in finnischen Schulen bestraft werden. Paradoxer Fakt ist: Wir haben international die homogensten Lerngruppen, reden täglich davon, wie heterogen unsere Schüler sind, und sind froh, dass wir die schlechten abschieben können, in Haupt- oder Sonderschulen.
Der Hauptpunkt aber ist: Der Doppel-Gau Pisa und Erfurt hat auf drastische Weise gezeigt, dass fachliche Leistungen und soziales Lernen, Effizienz und Humanität, Lernprodukt und Lernprozess immer zusammengehören. Alle zukünftigen Debatten und Maßnahmen, die eine Qualitätssteigerung unserer Schulen im Blick haben, kommen daran nicht vorbei. Die Mär vom Erfolg des deutschen Schulwesens kann wieder Wirklichkeit werden. Es wäre längst Zeit, Reformen einzuleiten.
Marc Böhmann ist Diplompädagoge und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heidelberger Institut für Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik. Er forscht zu den Themen Lesesozialisation und Lesekompetenz und wird morgen auf dem Podium des taz-kongresses on tour in Tübingen (19.30 Uhr im Sudhaus) sitzen.
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