: Über Brüssel in die Moderne
Die EU hat mehr Konkurrenz bei Bus und Bahn verordnet. Schon ab diesem Sommer könnte es heißen: Wettbewerb und Aus für die Subventionen! Doch Berlin ist schlecht vorbereitet
von ADRIENNE WOLTERSDORF
Im Informationsbüro des Europäischen Parlaments Unter den Linden blättern meist mehr Touristen als Berliner in den Broschüren. Und die Stadt selbst scheint sich nur flüchtig für das zu interessieren, was im Labyrinth von Fluren und Gängen unter dem Namen Europäische Union getrieben wird. Dennoch könnte den Brüsseler Bürokraten etwas gelingen, was kein Lokalpolitiker im Gestrüpp der Interessen zuwege gebracht hätte: nämlich eine radikale Modernisierung des Systems von Bussen und Bahnen.
Die rund 170 Jahre alte Branche des öffentlichen Personennahverkehrs und des Schienen-Personennahverkehrs (SPNV) hat es bitter nötig. Nach einem boomenden Debüt im 19. ist ihre Existenz im 20. Jahrhundert nur noch durch sinkende Passagierzahlen gekennzeichnet. Nicht nur in Berlin (jährlich eine halbe Milliarde Euro) – das rollende System verschlingt mittlerweile Unsummen an Subventionen. In Europa flossen Mitte der 90er-Jahre jährlich 32 Milliarden Euro an Hilfsgeldern in die Branche.
Zu teuer und uneffektiv, meinen die Eurokraten und wollen dem System neues Leben einhauchen. Dabei setzen sie nicht auf Privatisierung, erklärt Stéphane Lecler von den European Metropolitan Transport Authorities (Emta). Sondern auf Wettbewerb. Der Mobilitätsexperte referierte gestern im Rahmen des „Zukunftsforum Bahn“, einer Veranstaltung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Aufgabenträger im SPNV. Hier informieren sich die deutschen Verkehrsunternehmensverbände über die drängenden und drohenden Veränderungen.
Die sind, einfach formuliert, revolutionär (siehe Kasten). Nicht nur, dass möglicherweise schon in diesem Jahr aus traditionellen Monopolunternehmen konkurrenzfähige Dienstleister werden müssen. Auch das Finanzsystem soll sich ändern. Statt alles in einem Topf zu rechnen, muss es bald getrennte Buchführung für die Infrastruktur und die Erbringung von Verkehrsdiensten geben. Für die Bahn gilt zudem: Auch der Personen- und der Güterverkehr müssen getrennt abgerechnet werden, damit nicht Subventionen für die „Pflichtleistung“ der Passagierbeförderung im defizitären Gütertransport versickern. Deadline ist der 15. März 2003.
Das in Brüssel formulierte Ziel nennen die Experten des Berliner Zukunftsforums daher respektvoll „ehrgeizig“. Gilt es doch, bis 2010 den Anteil des Schienenverkehrs in der EU auf dem Stand von 1998 zu halten, was ein Plus von 40 Prozent voraussetzt. Treibkraft für solch hochgesteckte Ziele sind zum einen das kommende EU-Wettbewerbsrecht, zum anderen die Vereinbarungen der Klimakonferenz von Kioto, die eine Reduzierung des Autoverkehrs fordern. Auch hier hat Berlin noch seine Hausaufgaben zu machen.
Im Bezirk Mitte werden an insgesamt 67 Tagen im Jahr doppelt so hohe verkehrsbedingte Feinstaubmengen gemessen, wie die Brüsseler Reglements zulassen, referiert Reinhard Kaiser vom Bundesumweltministerium. An Einsicht und Aktivität mangelt es bei den Berliner Transporteuren allerdings nicht. Die BVG und der gesamte Verkehrsverbund rüsten nach und nach auf schadstoffarme Dieselbusse und Lokomotiven um. Dennoch bleibe in puncto Umweltfreundlichkeit viel zu tun, sagt Kaiser. Ein paar Rußfilter reichten da nicht. Auch bei der Lärmdämmung bleibe viel zu tun. Überhöre Berlin die Brüsseler Vorgaben, habe die EU das Recht, Sanktionen wie Fahrstopp in der City zu verhängen.
Teilungsbedingt geht die Hauptstadt im ÖPNV nicht ganz optimal sortiert in die Ära des neuen Wettbewerbs kommunaler Anbieter (siehe Interview). Egal wer die BerlinerInnen zukünftig fährt: Langfristig profitieren sie vom neuen, kontrollierten Wettbewerb.
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