DIE WELT WIRD SCHNELLER – ABER WIR LEIDEN WENIGER DARUNTER: Die Entschleunigung hat schon begonnen
Die großen Erzählungen von der Befindlichkeit des westlichen Menschen gehen so: Wir ertrinken in einer immer gewaltigeren Flut von Information. Wir fühlen uns am Arbeitsplatz zunehmend gestresst. Wir haben das Gefühl, die Zeit läuft uns davon. Kurz gesagt: Die Welt wird unerfreulicher. Auf diese Erzählungen greifen wir immer wieder gern zurück – und träumen in Büchern, Filmen und Essays von Entschleunigung.
Aus Allensbach kommt energische Widerrede. Eine neue Studie zeigt: Heute haben weniger Menschen als noch einige Jahrzehnte zuvor das Gefühl, die Zeit rase ihnen davon. Und weniger Personen als noch vor einigen Jahren haben das Gefühl, unter Stress zu leiden. Wo bleibt sie also, die These von den zunehmend gestressten Menschen im Spätkapitalismus? Oder ist das nur eine Mär der Feuilletonisten?
Die Antwort könnte lauten: Das Empfinden von Geschwindigkeit ist komplexer als angenommen. In der Produktentwicklung, in der Informationsverarbeitung gibt es objektiv messbare Beschleunigungen, einerseits. Aber die Menschen selektieren und immunisieren sich auch mehr gegen die Überflutung, andererseits. Sie sind bessere Stressmanager geworden und leben in einer eigenen „zweiten Welt“, in der sie sich gegen die Beschleunigungshysterie des Spätkapitalismus abschotten können. Und nicht nur das: In einer Gesellschaft der Langlebigen ist der Eindruck durchaus zutreffend, dass die Zeit weniger rast als zuvor.
Angelernte Arbeiter sind immer noch die Gestresstesten, ergibt sich aus der Studie. Das sagt nur aus, dass äußere Bedingungen, etwa Selbstbestimmung oder aber Monotonie, das Zeit- und Stressgefühl verbessern oder verschlechtern. Es lohnt also, sich die konkreten Bedingungen anzuschauen, unter denen Menschen ihrem Job nachgehen.
Leider wird die Mär vom zunehmenden Stress und der dahinrasenden Zeit wohl dennoch weitergetragen. Denn Erzählungen sind dazu da, uns zu trösten und zu entlasten. Die Wirklichkeit ist nicht ganz so einfach. Zum Glück. BARBARA DRIBBUSCH
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