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Kurze Knutschtour gesichert

Morgen wird die legendäre „Ringbahn“ um die Innenstadt feierlich eröffnet. Ein Rundgang über neue Gleise und einen alten Bahnhof, den Handwerker und Ingenieure wieder auferstehen lassen

Arbeiten bis zur letzten Stunde, wie das immer so ist

von PHILIPP GESSLER

„Eine Riesensauerei!“ Diplom-Ingenieur Hans-Jürgen Göhler ist kein Freund starker Worte, erst recht nicht, wenn die Presse dabei ist. Aber wenn er auf die Graffiti am Ende des neuen S-Bahnhofs Wedding schaut, kann er seine Emotionen doch nicht ganz unterdrücken. Hier werde Ästhetik „sinnlos zerstört“, schimpft er. Darin zeige sich ein „Werteverlust der Gesellschaft“. Die Graffiti seien auch nicht motivierend für die Handwerker, die in diesen Tagen hier die letzten Arbeiten zu vollbringen hätten. Mit den Schmierereien „geht was verloren“. Dabei werde von den Handwerkern „Identifikation“ mit ihrer Arbeit erwartet.

Identifikation mit der Arbeit: Es sind die letzten Tage vor der feierlichen Eröffnung der legendären Berliner „Ringbahn“, einst, wie selbst der sarkastische Spiegel hymnisch schrieb, das „größte, modernste, billigste und leistungsfähigste Nahverkehrssystem Europas“ – und bei den Machern des morgigen Ringschlusses wie Göhler zeigt sich die Begeisterung für ihr, tja, historisches Werk bei jedem Schritt, und zwar im wörtlichen Sinne: Der 45-jährige Göhler ist, um es genau zu sagen, „Teilprojektleiter“ im „Projektzentrum Nord“ des Unternehmens „DB Projekt Verkehrsbau“ der „Deutsche Bahn Gruppe“ und erlaubt einen Gang auf der drei Kilometer langen neuen Strecke zwischen Gesundbrunnen und Westhafen. Es sind die Kilometer, die noch fehlen, um nach knapp 41 Jahren den 37 Kilometer langen S-Bahn-Ring um die Innenstadt zu schließen. Wieder zu schließen. Denn gekappt wurde er beim Mauerbau in der Nacht zum 13. August 1961 – noch bevor die ersten Steine zwischen Ost und West gemörtelt wurden. Auch deshalb setzt ein eigentlich rein technischer Vorgang wie der Ringschluss in der Hauptstadt solche Emotionen frei: Es geht um den „letzten emotionalen Lückenschluss nach der Wiedervereinigung“, wie S-Bahn-Sprecher Ingo Priegnitz verkündet: Eine weitere Wunde dieser narbenreichen Stadt wird geschlossen.

„Eine gewisse Bedeutung“, sagt Göhler naturwissenschaftlich nüchtern, habe der Ringschluss. Der Ingenieur hat sich die richtige Gehweise für den Gang über die Gleise angewöhnt, von Schwelle zu Schwelle schreitend, ein etwas kurzer Schritt für seine Körpergröße. Historische Schritte, wenn man so will, sind es in der „14-35“-Spurweite, die, wie Göhler nebenher doziert, ebenfalls historisch ist. Denn der Zwischenraum zwischen den Schienen ist seit Beginn des Eisenbahnbaus vor über 160 Jahren genau 1.435 Millimeter, richtig: 1,435 Meter groß. Die abgedeckten Leitungen knapp über dem Schotter sind seit Anfang des Monats in Betrieb, transportieren 750 Volt Gleichspannung. Erstaunlich wenig Anspannung ist an Göhler zu beobachten. Der Ringschluss sei „ein Abschnitt im Leben der S-Bahn“, sagt er, „das hat schon was.“ Schon ist es wieder vorbei mit dem Anflug von Pathos, besiegt der Ingenieurskopf das Eisenbahnerherz: Berlin als Eisenbahndrehpunkt „wird im Sinne der Erfordernisse realisiert“, erklärt Göhler.

Es geht um Emotionen beim Ringschluss – was sollen da die Fakten: Investitionen von 54 Millionen Euro insgesamt, wozu vier neue Bahnhöfe und die Erneuerung oder der Neubau von 46 Brücken und Dämmen gehören. Genau 63 Minuten braucht die S-Bahn für eine Umrundung der City, die erstmals ab 1877 mit durchgehend zwei Gleisen möglich war. Aber nur von 1944 bis 1961 rumpelte die S-Bahn tatsächlich im „Vollring“, das heißt, sie fuhr auf der Ringbahn immer nur im Kreis. Auch nach dem neuen Ringschluss kann man die City ohne Umsteigen in einer S-Bahn umrunden. Der Kreisverkehr endet aber spätestens nach anderthalb Runden für die einzelnen Züge, wenn die Bahn den Ring nach Norden (Richtung Buch) oder Süden (Richtung Königs Wusterhausen) verlässt. Keine Renaissance endloser „Knutschtouren“ jugendlicher Pärchen also, wie sie zwischen 1944 und 1961 so populär waren: DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht verhinderte auch dies durch seinen Mauerbau.

Der letzte emotionale Lückenschluss nach der Vereinigung

Womit wir wieder bei den Emotionen sind, die auch Olaf Schulz, „Realisierungsmanager“ für den Abschnitt „Gesundbrunnen-Westhafen“ der „DB Projekt Verkehrsbau“ der (puh!) „Deutschen Bahn Gruppe“ nur manchmal in seinen Worten durchscheinen lässt: Etwa, wenn er mit Blick auf die Klinkerbögen von 1870 davon spricht, sie seien durch „unsere Väter schon mal ausgebessert worden“, wie er im neu-alten S-Bahnhof Wedding sagt: An brüchige Stellen in den eleganten Gewölben sei nach dem Krieg nur „Beton reingeschmiert“ worden statt „neuer Klinker“. Ziemlich doof zu fragen, ob man denn mit den Arbeiten im Plan sei. „Selbstverständlich“, zischt Schulz, halb entsetzt, halb ironisch. Aber natürlich werde die Zeit bis zur offiziellen Eröffnung der Ringbahn am Samstag noch gefüllt mit letzten Arbeiten – „bis zur letzten Stunde, wie das immer so ist.“ Ein paar Handwerker streichen Geländer mit Rostschutzmittel ein, andere legen Pflaster am Fuß der S-Bahn-Bögen oder kontrollieren die Elektrik am Gleis oder in Schaltkammern des Bahnhofs. Auf den Schienen kommt ein kleiner Kran entlanggeschnurrt. Statt Reifen hat er silber glänzende, glatte Schienenräder.

Es läuft. Göhler erklärt auf dem Rundgang die Linienführung der noch leeren Gleise, wo welche Fern- und S-Bahn-Linie eines Tages wohin führen werde. „Das ist fertig hier“, sagt er mit kaum verhohlenem Stolz. Immer wieder kommt er auf die Genauigkeit der Planung und Ausführung zu sprechen: „ganz exakt geregelt“, sagt er – bis zur „Körnungsabstufung“ des Schotters, der unter die Gleise „gestopft“ werde, was eine „recht perfekte Lagerung“ ermögliche: „Eisenbahn kann auch Ästhetik haben“, sagt er mit Blick auf die elegant geschwungene Schienen-Doppelreihe, die sich irgendwo dort weit vorne dem Blickfeld entzieht. „Sieht sehr ordentlich aus.“ Wenn da nicht die Graffiti wären! Auf sie kommt Göhler immer wieder zu sprechen. Eine Lärmschutzwand etwa werde unbrauchbar, wenn ihre Poren durch die gesprühte Farbe geschlossen würden – Kraftausdrücke entfahren ihm, wenn er mal wieder neue Tags entdeckt. Die Lärmschutzwände würden so spät aufgestellt, da sie sonst schon vor der Eröffnung der Strecke vollgesprüht würden, erklärt Göhler und rutscht ab ins Gesellschaftskritische: Was laufe falsch, dass die Arbeit anderer nichts mehr gelte, sondern mutwillig zerstört werde?

Der Rundgang ist zu Ende. Göhler überprüft noch mal den neuen Fahrkartenautomaten auf dem Bahngleis. Er funktioniert einwandfrei. Glaser im Blaumann heben das rund zugeschliffene Glas über dem Eingang des Bahnhofs in seine Halterung: „Millimeterarbeit“, raunt Göhler. „Am Ende sieht alles sehr einfach aus.“ Klar, was seine Arbeit angehe, „ist ’ne Identifikation da“, sagt der Ingenieur, wie das eben bei jedem Beruf sein sollte: „Sonst hat man den falschen Job.“ Aber vielleicht gingen Eisenbahner ja auch „mehr im Beruf auf als andere Leute“. Schließlich bezeichneten viele sie ja als „besonderes Völkchen“. Morgen feiert das Volk. Weil der Ring geschlossen ist.

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